25/06/2024
Seitengänge gymnastisch nützen anstatt sie nur “vorzuführen”
Einleitung
Ich dachte, ich würde heute ein wenig über den Unterschied zwischen der gymnastischen Nutzung von Seitengängen und ihrer Vorführung, etwa auf einem Turnier oder in einem Schauprogramm, erzählen. Es gibt unter Dressurreitern eine allgemeine Tendenz Seitengänge immer nur wie auf dem Turnier zu reiten und sie auch immer wie ein Turnierrichter zu beurteilen. Dazu gehört auch die Neigung, Seitengänge hauptsächlich an der langen Seite zu reiten und mehr oder weniger die ganze Seite in demselben Seitengang zu bleiben.
Dagegen ist natürlich auch nichts einzuwenden, aber man kratzt damit nur an der Oberfläche des gymnastischen Potentials von Seitengängen.
Diese Lektionen wurden nicht (nur) erfunden, um die Ausbildung des Pferdes zu beurteilen, sondern sie besitzen auch sehr wertvolle gymnastische Eigenschaften, die man nützen kann, um die Balance, Geraderichtung, Geschmeidigkeit und Versammlungsfähigkeit des Pferdes zu verbessern.
Um die gymnastische Wirkung dieser Lektionen voll ausschöpfen zu können, ist es oft besser, sie nur für wenige Tritte als Teil einer zusammengesetzten Übung zu reiten, mit dem Ziel, ein bestimmtes Hinterbein mehr unter die Last treten zu lassen oder es mehr zu beugen.
Und ich habe festgestellt, dass ein geringerer Abstellungsgrad oft vollkommen ausreicht und manchmal sogar effektiver ist als die bekannten Versionen auf 3 oder 4 Hufschlägen.
Biomechanischer Hintergrund
Der Winkel der Abstellung in den echten Seitengängen hängt von der Versammlungsfähigkeit des Pferdes ab, da das Pferd sich seitlich biegen muss, um darin geradegerichtet zu sein. Je steiler die Abstellung, desto mehr muss sich das Pferd biegen und versammeln.
Die Biegung in Seitengängen entspricht der Biegung eines Kreisbogens von einem bestimmten Durchmesser. Deshalb wurde in der Spanischen Reitschule in Wien früher vor einem Schulterherein, Kruppeherein oder vor einer Traversale in der ersten Ecke der langen Seite eine Volte geritten. Die Volte hilft dabei, die Biegung herzustellen, die man für den Seitengang benötigt, was die Einleitung des Seitengangs erleichtert. Beim Übergang von der Volte in den Seitengang wird dann die Biegung beibehalten.
Schaut man sich ein Foto von einem Pferd im Schulterherein an, bei dem die Hinterbeine sich auf dem ersten Hufschlag befinden und die Vorderbeine nach innen gerückt sind, kann man nicht ohne weiteres sagen, ob es sich um den Anfang einer Volte oder um ein Schulterherein handelt. Folgt das Pferd der Richtung der Vorderbeine, ohne seine Biegung zu verändern, dann wird es einen Kreisbogen beschreiben, dessen Radius dem Grad der seitlichen Biegung entspricht.
Schaut man sich ein Foto von einem Pferd im Kruppeherein an, könnte es sich um das Ende einer Volte handeln, bei dem die Vorderbeine bereits auf dem ersten Hufschlag angekommen sind, oder um ein Kruppeherein (je nach dem Moment der Fußfolge, in dem das Foto gemacht wurde).
Je steiler die Abstellung des Pferdes im Seitengang, desto kleiner ist die entsprechende Volte. Je kleiner die Volte, desto versammelter muss das Pferd sein. Das ist vielleicht auch der Grund, warum Seitengänge in deutschen Turnieraufgaben erst in der Klasse M eingeführt wurden, da ein Schulterherein oder Kruppeherein auf 3 Hufschlägen mit einer Abstellung von ca. 33 Grad einer Volte entspricht, die unter Umständen einen höheren Versammlungsgrad erfordert, als das A oder L Pferd leisten kann.
Reitet man einen Seitengang mit einer steileren Abstellung als die Versammlungsfähigkeit des Pferdes erlaubt, dann biegt sich das Pferd nicht genügend in seinem Körper, was dazu führt, dass entweder die Hinterhand oder die Vorhand die gerittene Linie verlässt. Das Pferd wird also schief und eines der Hinterbeine tritt nicht mehr unter den Körper, sodass die Lektion ihren gymnastischen Wert verliert.
Zur Bestimmung der steilsten Abstellung, deren das Pferd fähig ist, könnte man die kleinstmögliche Volte reiten, die das Pferd auf einfachem Hufschlag ausführen kann. Pariert man mit den Hinterbeinen auf dem ersten Hufschlag zum Halten, sieht man die steilste mögliche Abstellung im Schulterherein. Pariert man mit der Vorhand auf dem ersten Hufschlag zum Halten, sieht man die steilste mögliche Abstellung im Kruppeherein.
Will man einen Seitengang mit steilerer Abstellung reiten, kann man versuchen, eine Volte zu reiten, deren Durchmesser der Biegung dieser Abstellung entspricht. Dann wird es sehr schnell offensichtlich, ob der Versammlungsgrad des Pferdes für eine Volte dieser Größe ausreicht, oder ob es dafür noch zu früh ist. Entspricht die Abstellung des Schulterhereins, das man reiten möchte, z.B. einer 6m Volte, dann braucht man ein S Pferd, um diesen Grad an Biegung und Versammlung im Trab oder Galopp bewältigen zu können. Kann das Pferd jedoch nur eine 10m Volte oder eine 12m Volte ausführen, kann es sich nicht so stark biegen, wie notwendig wäre, um auf einer 6m Volte alle vier Hufe auf den richtigen Spuren zu behalten.
Was tun mit einem weniger weit ausgebildeten Pferd?
Was tun wir nun mit einem weniger fortgeschrittenen Pferd? Man kann entweder die Seitengänge insgesamt solange verschieben, bis das Pferd sich genug versammeln kann, um ein “richtiges” Schulterherein oder Kruppeherein auf 3 Hufschlägen auszuführen, oder man riskiert, dass man das Pferd schief macht, wenn man trotzdem auf den 3 Hufschlaglinien besteht, selbst wenn es noch nicht in der Lage ist, eine Volte der entsprechenden Größe zu traben oder zu galoppieren.
Aber wie soll das Pferd die Versammlung entwickeln, wenn man nicht die gymnastischen Vorteile der Seitengänge ausnützen kann?
Es gibt eine weitere Option, und zwar sind das Seitengänge mit einer Abstellung, die dem Durchmesser eines Kreisbogens entspricht, den das Pferd korrekt ausführen kann - selbst wenn es nur ein Zirkel mit 20m oder 15m Durchmesser ist. Ich nenne diese flachen Abstellungsgrade homöopathische Dosierungen und ich habe sie im Laufe der Jahre immer mehr eingesetzt, selbst mit Pferden, die sich genug versammeln können für die regulären Seitengänge.
Seitengänge gymnastisch nutzen, anstatt sie vorzuführen
Ich bin auch schon vor Jahren davon abgekommen, Seitengänge als Selbstzweck “vorzuführen”, wie in einer Turnieraufgabe. Stattdessen verwende ich sie für gymnastische Zwecke und je nachdem, was ich erreichen möchte, brauche ich nicht unbedingt einen steilen Abstellungsgrad und ich brauche auch keine ganze lange Seite. Aus gymnastischer Sicht reicht es oft aus, die Vorderbeine oder Hinterbeine nur eine Hufbreite oder sogar eine halbe Hufbreite seitwärts zu bewegen. Worauf es ankommt, ist die korrekte Ausrichtung der Pferdebeine und die Biegung im Körper.
Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, was die einzelnen Seitengänge für die gymnastische Entwicklung des Pferdes bewirken.
- Das Schulterherein kann verwendet werden, um das innere Hinterbein mehr unter den Körper zu bringen, d.h. näher an das äußere Hinterbein und näher an die Vorderbeine. Hinterbeine, die nahe aneinander vorbei treten, sind eine Voraussetzung für Versammlung, wie der Herzog von Newcastle entdeckte.
- Das Konterschulterherein kann verwendet werden, um das äußere Hinterbein (im Sinne der Reitbahn) mehr unter den Körper zu bringen. Es lenkt die Aufmerksamkeit des Pferdes auch auf den äußeren Schenkel und Zügel, und es hilft bei der Kontrolle der äußeren Schulter, sowie bei der Herstellung einer stabilen Verbindung zwischen Halsansatz und Schulter.
- Kruppeherein und Traversale können verwendet werden, um das innere Hinterbein mit Hilfe der Körpermasse von Pferd und Reiterin zu beugen. Sie lenken die Aufmerksamkeit des Pferdes darüberhinaus auf den äußeren Reiterschenkel.
- Der Renvers kann verwendet werden, um das das äußere Hinterbein (im Sinne der Reitbahn) mit Hilfe der Körpermasse von Pferd und Reiterin zu beugen. Er lenkt die Aufmerksamkeit des Pferdes auch auf den äußeren Zügel.
Alle Seitengänge mobilisieren die Hinterbeine und bringen sie sowohl näher zu einander als auch näher an die Vorderbeine. Seitengänge, in denen das Pferd GEGEN die Bewegungsrichtung gebogen ist (Schulterherein, Konterschulterherein) mobilisieren die Hinterbeine hauptsächlich in seitlicher Richtung. Seitengänge, in denen das Pferd IN die Bewegungsrichtung gebogen ist (Kruppeherein, Traversale, Renvers) mobilisieren die Hinterbeine auch in vertikaler Richtung. Sie erfordern eine stärkere Beugung des inneren Hinterbeins.
Falls Sie Seitengänge noch nie aus diesem Blickwinkel betrachtet haben, können Sie sie zu Fuß ausprobieren und beobachten, wie Ihre “Hinterbeine” sich dabei bewegen, welches die Last stützt und welches die Körpermasse weiter transportiert. Dann probieren Sie dasselbe im Sattel im Schritt, damit Sie Zeit haben, genau auf alle Details zu achten.
Geschmeidigkeit, Geraderichtung und Versammlung entwickeln
Ausgehend von den theoretischen Ausführungen des letzten Abschnitts kann man die gymnastischen Möglichkeiten extrapolieren, die sich aus der Kombination von Seitengängen mit einander oder aus der Kombination von Seitengängen mit Ecken, Volten und Hinterhandwendungen ergeben.
Will man ein Hinterbein mobilisieren und kräftigen, muss man es zuerst unter den Körper bringen, um es anschließend mit Hilfe der Körpermasse zu beugen. Schaut man sich die Informationen zu den einzelnen Seitengängen an, sieht man sehr schnell, dass Kombinationen von Schulterherein und Kruppeherein, Schulterherein und Traversale oder Konterschulterherein und Renvers recht nützlich sind, da Schulterherein und Konterschulterherein das innere Hinterbein im Sinne der Biegung mehr unter den Körper befördern, während Kruppeherein, Traversale und Renvers dasselbe beugen.
Kombinationen von Schulterherein und Volte oder Schulterherein und Kurzkehrtwendung sind aus demselben Grunde ebenfalls wertvoll, da sowohl die Volte als auch die Kurzkehrtwendung das innere Hinterbein beugen.
Diese Kombinationen sind oft am effektivsten, wenn man nur für eine kurze Distanz (3-6 Tritte) in den einzelnen Seitengängen bleibt und abwechselt zwischen dem Seitengang, der das innere Hinterbein engagiert (Schulterherein, Konterschulterherein), und dem Seitengang, der es beugt (Kruppeherein, Traversale, Renvers). Das ist viel effektiver als wenn man über eine lange Distanz in demselben Seitengang bleibt.
Wie bereits erwähnt, ist es nicht notwendig, Seitengänge mit steiler Abstellung zu reiten. Manchmal scheinen flache Abstellungswinkel sogar effektiver zu sein als steile. Man kann die Wirkung der Seitengänge sogar dann noch spüren, wenn ein Beobachter nicht sehen kann, dass man einen Seitengang reitet, aber Pferd und Reiter die Biegung und das stärkere Untertreten im Körper spüren.
Diese Kombinationen erlauben es, ein einzelnes Hinterbein sehr gezielt anzusprechen, sodass es geschmeidiger und kräftiger wird.
Zusammenfassung
Obwohl nichts dagegen einzuwenden ist, wenn man die Seitengänge auf 3 oder 4 Hufschlägen übt, wenn das Pferd in der Lage ist, sich entsprechend stark zu versammeln, kann man seinen gymnastischen Werkzeugkoffer erweitern, indem man das gesamte Spektrum der Abstellungswinkel von 0 Grad bis 45 Grad (4 Hufschlaglinien) erforscht. Versuchen Sie, den Winkel zu finden, der die beste Wirkung auf die Balance, Geschmeidigkeit und Geraderichtung Ihres Pferdes ausübt. Experimentieren Sie mit Seitengängen auf einer Vielzahl von gebogenen und geraden Linien. Spüren Sie die Wirkung eines Seitenganges, bei dem die Hinterbeine eine größere Distanz zurücklegen müssen als die Vorderbeine, weil sie sich auf einem etwas größeren Kreisbogen bewegen als die Vorderbeine. Und erforschen Sie die Wirkung eines Seitenganges, bei dem die Hinterbeine eine kürzere Distanz als die Vorderbeine zurücklegen müssen, weil sie sich auf einem etwas kleineren Kreisbogen bewegen.
Versuchen Sie, die verschiedenen Seitengänge aneinander zu reihen und zu beobachten, ob es eine kumulative Wirkung gibt, was Balance, Geraderichtung, Leichtheit und Durchlässigkeit angeht.
Dr. Thomas Ritter
www.klassischereitkunst.com
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