22/06/2022
Notdienst in Not!
Langsam wird das Eis dünn, sehr dünn. Die Rede ist nicht vom Klimawandel, sondern von der dramatischen Situation im tierärztlichen Notdienst. Es gibt ihn kaum noch! Immer mehr Tierkliniken müssen ihren Klinikstatus aufgeben, weil der damit verbundene Notdienst einfach nicht mehr ausreichend besetzbar ist. In den wenigen Kliniken hingegen, die ihren Notdienst noch irgendwie aufrechterhalten, verzweifeln die Tierärzte an dem kaum mehr zu bewältigenden Zulauf und der Tatsache, nur noch das Nötigste für die Patienten tun zu können.
Die wirtschaftliche Lage der deutschen Tierärzte hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten stetig verschlechtert. Der gesetzlich festgesetzte Rahmen, innerhalb dessen Tierärzte ihre Leistungen abrechnen dürfen, die GOT (Gebührenordnung für Tierärzte), entspricht nicht mehr den aktuellen Kosten für Mieten, Ausstattung, Personal, Energie etc. Maximal kann der dreifache Satz zur Anwendung kommen. Im westeuropäischen Vergleich ist die tiermedizinische Versorgung in Deutschland billig.
Eine zusätzliche Herausforderung ergibt sich aus dem Arbeitszeitgesetz. Elf Stunden Ruhezeit schreibt dieses nach einer Schicht vor, die maximal zehn Stunden dauern darf; dementsprechend viele Tierärzte muss sich eine Klinik für eine Versorgung rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr leisten können. Kommt im Notdienst für eine Behandlung der dreifache Satz zur Anwendung, wird das häufig als „Abzocke“ betrachtet. Betriebswirtschaftler haben indes errechnet, dass die Notdienstversorgung tatsächlich sogar erst bei einem fünffachen Satz kostendeckend wäre. In anderen Branchen gibt es über die Kosten für Dienstleistungen in der Nacht oder am Wochenende gar keine Diskussion – sei es beim Schlüsseldienst oder Sanitärnotdienst. Und dort geht es nicht einmal um Leben und Tod.
Offensichtlich fehlt für die betriebswirtschaftliche Seite der Tiermedizin in der öffentlichen Wahrnehmung das Bewusstsein. Das mag in der Emotionalität des Berufs wie auch im Idealismus vieler seiner Vertreter begründet sein oder auch daran liegen, dass der humanmedizinische Kassenpatient Arztrechnungen in der Regel gar nicht zu Gesicht bekommt. Zudem lassen leider in Deutschland bisher nur wenige Tierbesitzer ihre Lieblinge krankenversichern. Fakt ist jedenfalls, Dumping-Preise ausgerechnet für die Gesundheit unserer Vierbeiner und eine „Geiz-ist-geil-Mentalität“ führen langfristig für alle Beteiligten, einschließlich der vierbeinigen Patienten, in eine Sackgasse.
Gegenwärtig jedenfalls haben die Kliniken mit noch bestehenden Notdiensten keine andere Wahl, als noch effizienter zu arbeiten und sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, lebensbedrohlich erkrankten Patienten schnellstmöglich über die akute Situation hinwegzuhelfen. Eine vollständige Abklärung einer Erkrankung ist im Notdienst nicht möglich und damit häufig auch keine genaue Diagnosestellung. Nur so können die Leben möglichst vieler schwerkranker Tiere gerettet werden. Bei nicht akuten Erkrankungen, wie einfachem Husten oder Durchfall bei ansonsten gutem Allgemeinbefinden, sind Tierbesitzer daher wesentlich besser in der Terminsprechstunde aufgehoben und sparen sich lange Wartezeiten. Akute schwerwiegende Krankheitszeichen, wie starke Atemnot, Krampfanfälle oder akute Lähmungen, hingegen bedeuten meist Lebensgefahr und erfordern eine tierärztliche Behandlung im Notdienst.