04/01/2022
KEINE HILFE IM NOTFALL
In vielen Regionen gibt es keine Tierkliniken mit 24h-Notfallstatus mehr - und das hat dramatische Folgen.
Ich möchte ein Thema aufgreifen, das inzwischen ein Ausmaß an Dramatik erreicht hat, wie es mir in den letzten Dekaden Tierhaltung noch nicht untergekommen ist: In Berlin und Brandenburg, aber auch in anderen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt gibt es de facto keine (!) 24h-Notfallversorgung für Haustiere durch Tierkliniken mehr. Es ist Tierhalter*innen nicht mehr möglich, ihre Tiere in akuten, schmerzvollen, Leid erzeugenden Situationen zeitnah veterinärmedizinisch angemessen versorgen zu lassen. Wir müssen, drastisch formuliert, gegen das Tierschutzgesetz verstoßen, weil verantwortliche Organisationen und die Politik über Jahrzehnte versäumt haben, den veterinärmedizinischen Bereich im Wandel der Zeit betriebswirtschaftlich am Leben zu erhalten.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin mir sicher, dass jede*r Tierärzt*in, die selbstständig oder angestellt in klassischen Tierarztpraxen ihr Allerbestes geben. Aber auch und gerade diese Praxen sind darauf angewiesen, an eine Tierklinik überweisen zu können. Entweder weil eine Behandlung in einer normalen Praxis nicht leistbar ist oder weil es die Kliniken und nicht die normalen Tierarztpraxen sind, die personell so organisiert sind (sein sollten), dass sie über Notdienste außerhalb normaler Öffnungszeiten verfügen.
Diese Tierkliniken mit einem 24h-Notdienst gibt es in vielen Regionen Deutschlands nicht mehr. Wenn ein Notfall eintritt, gibt es KEINE Einrichtung mehr, die die veterinärmedizinische Versorgung anbieten kann. Keine!
Die Tierkliniken, die im Rahmen normaler Öffnungszeiten betrieben werden, werden überschwemmt mit Fällen und Notfällen und kämpfen tagein, tagaus den Kampf gegen Windmühlen im emotionalen Sturm hilfesuchender Tierhalter*innen, die sich nun auf einen Bruchteil der Versorgungszeit akkumulieren und das System damit wiederum lahmlegen. Was soll auch passieren, wenn ein Angebot von 24/7 auf - sagen wir - 8/5 reduziert wird? Es werden deswegen ja nicht weniger tierische Patienten.
Das klingt übertrieben? Das ist es nicht. In Sachsen-Anhalt und Brandenburg gibt es (anscheinend) keine Einrichtung mehr, die noch einen 24h-Klinikstatus hat und damit Notfälle versorgt. In Berlin gibt es noch einige wenige Einrichtungen - die aber praktisch alle Notfälle ablehnen müssen, weil sie komplett überrannt werden. Als Privatperson wird man genauso abgewiesen wie auch Tierärzt*innen, die sich bemühen, tierische Patienten zu überweisen.
Hilfesuchende Tierhalter*innen erleben Abweisung in größter Not, quälende Odysseen auf der Suche nach Hilfe und Tiere leiden Stunden und Tage, weil ihnen nicht die Versorgung gewährleistet werden kann, die notwendig wäre. Es geht erst einmal nicht um fehlende finanzielle Mittel seitens der Halter*innen und es geht vor allem nicht um Unwillen seitens der Tierärzt*innen. Das komplette veterinärmedizinische System in diesen Bundesländern ist kollabiert und wird alleine und ohne Unterstützung seitens der zuständigen Organe von Tierarztpraxen notdürftig ersetzt. Der Zustand ist unhaltbar für die veterinärmedizinischen Fachpersonen und die Tierhalter*innen.
Schon 2018 hat der bekannte Tierarzt und Blogger Ralph Rückert diese Situation beschrieben und begründet - seine Warnungen sind zuverlässig eingetreten: https://www.tierarzt-rueckert.de/blog/details.php?Kunde=1489&Modul=3&ID=20328
Es fehlt nicht an Kompetenz oder Arbeitsmotivation im veterinärmedizinischen Bereich. Was fehlt sind ausreichend ausgebildete Personen, weil das Studienkonzept unzeitgemäß ist, und Arbeitsbedingungen, die zeitgemäß sind und keinen Raubbau an den Fachkräften bedingen. Was fehlt sind realistische Gebührenordnungen und -sätze, die einen solchen 24h-Betrieb finanziell möglich machen. Regelmäßige Arbeitszeiten, ausreichend Personal, eine Infrastruktur, die funktioniert - es klingt so banal, dass man kaum fassen kann, dass genau das nicht gegeben ist.
Und dabei wäre es "einfach", wenn auch nicht für alle Tierhalter*innen angenehm: Behandlungen im Notdienst müssen genau so berechnet werden, damit sich die Kosten decken. Wenn damit Behandlungen das Fünffache kosten, dann muss das so sein - alles andere macht überhaupt keinen Sinn. Wenn Tierhalter*innen solche Summen nicht zurückgelegt haben, dann muss es sinnvolle Angebote von Krankenversicherungen geben, Haustiere abzusichern - und zwar ohne Ausschlüsse rassebedingter, vererbbarer Erkrankungen, die auch auf Mischlinge und phänotypisierte Hunde angewandt werden. Und ohne Ausschlüsse von Tieren über dem Erwachsenenalter mit angemessenen Staffelungen der monatlichen oder jährlichen KV-Beiträge. Es ist ja nun nicht so, als gäbe es so ein System nicht, von dem man ableiten könnte. Eine Alternative für Tierhalter*innen könnten von mir aus auch spezielle Mikrokredite sein. Es bleibt: Wenn eine angemessene Versorgung einen Preis hat, dann muss der gezahlt werden. Wir können nicht weiter darauf bestehen, dass Haustiere billig sind. Wir benötigen Aufklärung darüber, dass die vollumfängliche veterinärmedizinische Behandlung einer 15 Euro-Farbratte Sonntag Nacht 500 Euro kosten kann, weil es Personalkosten, Betriebskosten, Geräte und Materialien gibt, die bezahlt werden müssen.
Wie kann es sein, dass es im veterinärmedizinischen Bereich zu einem Kollaps kommt, wenn Menschen durch Mindestlöhne und Arbeitsgesetze minimal geschützt werden? Wieso lese und höre ich nichts von Konzepten, die gute (!) Arbeitsbedingungen schaffen und eine Notdienstversorgung von Haustieren ermöglichen? Wieso gibt es diese Tierklinik nicht, in der ich zwar das Fünffache zahle, aber mein Tier kompetent behandelt wird? „Der Markt wird das regeln"? Der Markt… ist ein kaltes, totes Biest, das jetzt noch mehr als vorher selbstständige Tierärzt*innen aussaugt, weil genau die von gesetzlichen Schutzmaßnahmen nicht erfasst werden. Das ist keine Lösung, das ist die widerliche Gleichgültigkeit der Masse, die niemals dazu führen wird, dass etwas besser wird, wenn es sich auch ausbeuten lässt, bis es ebenfalls kollabiert.
Betrifft das Problem nur Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt? Nein. Die Geschichten häufen sich aus allen Regionen Deutschlands. Tierärzt*innen opfern ihr Privatleben, ihren Schlaf, machen Operationen unter Bedingungen, die eine Tierklinik voraussetzen würden - die es aber nicht mehr gibt. Es wird über Notfallhotlines geredet, über Wochennotdienste (die in der Realität längst Jahresnotdienste sind). Das Netz ist voll mit Texten und Aufrufen, die das Problem diskutieren. Ich glaube, dass vielen Tierhalter*innen dennoch nicht klar ist, dass sie direkt und akut betroffen sind.
Ich denke jetzt seit Monaten über diese Problematik nach. Für alle Tierhalter*innen gilt meines Erachtens momentan:
1. Über die Lage vor Ort informieren - möglicherweise ist eine oder gar mehrere existierende Kliniken in der Nähe kein Anzeichen für eine tatsächlich verfügbare Notfalllösung.
2. Fortbildung in gesundheitlichen Aspekten das eigene Haustier betreffend. Und damit meine ich nicht Pseudokompetenzen in Alternativmedizin, die keine Wirkung über den Placebo (by proxy)-Effekt hinaus hat, sondern sinnvolle Grundlagen: Anatomie, Physiologie, Parasitologie, Erste Hilfe - eben alles, was notwendig ist, damit man den gesundheitlichen Zustand des eigenen Tieres möglichst gut einschätzen kann und das System nicht mit peinlicher und leicht zu behebender Unwissenheit belastet.
3. Selbstverantwortlichkeit in der Tierhaltung: Ausreichende Hygiene, sinnvolle Pflege in Eigenleistung. Krallenschneiden, Fellpflege, Zahnkontrolle sind überwiegend Leistungen, die man als Halter*in selbst erbringen kann - ein System am Anschlag damit zu belasten, weil man nicht bereit ist, den schnappenden Yorkie zu trainieren oder wenigstens einen Maulkorb draufzupacken, ist in diesen Zeiten problematisch.
4. Im schlimmsten Fall damit rechnen, dass die Region es nicht bietet, dass man auf das Füllhorn veterinärmedizinischer Möglichkeiten zurückgreifen kann und - so hart es klingt - ein Tier besser eingeschläfert wird, als wochenlang darauf zu hoffen, dass die Situation in der Veterinärmedizin sich demnächst ändert (was sie nicht wird), während das Tier leidet.
Punkt 4 klingt unglaublich hart, ich weiß das. Und ich schreibe das, um zu provozieren - weil ich die Gesamtsituation unglaublich wütend macht. Realistisch betrachtet befinden wir uns aber an einem Punkt, an dem es nicht in allen Regionen Deutschlands ein gleichwertiges Angebot an veterinärmedizinischen Dienstleistungen gibt. Selbst wenn man die finanziellen Mittel hat. Lange Wartezeiten, stundenlange An- oder Irrfahrten, unzureichende Versorgung in Zwischenzeiten wiegen sehr schwer gegenüber einer Leistung, die eine Genesung vielleicht um ein paar Prozentpunkte wahrscheinlicher macht - oder einfach nur dem Menschen, aber nicht dem leidenden Tier Klarheit über die Unbehandelbarkeit des Leidens schafft.
Das vermeintliche Angebot an lebensrettenden oder zumindest -verlängernden Angeboten in der Veterinärmedizin stellt Tierhalter*innen einerseits immer öfter vor das moralische Dilemma, möglicherweise nicht genügend für das eigene Tier getan zu haben. Dieser Trend steht im krassen Kontrast zu der regionalen Situation andererseits, keine*n Operateur*in für eine akute und lebensbedrohende Pyometra, eine Gebärmutterentzündung, zu finden - oder ein Herzultraschall für ein Tier, dessen Lunge mit Blut vollläuft und das förmlich an sich selbst erstickt. Punkt 1 bedeutet also auch, sich damit auseinanderzusetzen, ob es im Notfall die furchtbare, aber bessere Alternative ist, dem Tierleid ein Ende zu setzen, auch wenn - unter anderen Bedingungen - noch Hoffnung bestünde. Ob das grausam ist? Ja. Aber im Sinne des Tierwohls eine wichtige Überlegung.
Derzeit wird auch darüber gesprochen, wie belastend übergriffige, pampige und unnötig ungebildete Tierhalter*innen sind. Ich mag ihnen keine Schuld geben - aber jetzt gerade sind sie ein potentes Gift in einer existentiellen Krise. Ich halte es für eine irrwitzige Forderung, Tierhalter*innen in der gegebenen Situation noch Demut und unendliche, überdeutlich formulierte Dankbarkeit abzuverlangen. Ich halte es für absurd, vom veterinärmedizinischen Fachpersonal übermenschliches Verständnis und immerwährende dienstleisterische Freundlichkeit zu verlangen. Dieses Drama spielt sich auf mehreren Bühnen gleichzeitig ab. Das Leid ist das gleiche, nur die Perspektive eine andere.
Ich weiß, was ich hier für einen provokativen Text verfasst habe. Ich verstehe, wenn ich damit Empörung erzeuge, aber ich möchte, dass über dieses Thema gesprochen wird, weil ich fürchte, dass ich mit meinen Worten nicht übertreibe. Ich möchte deswegen die fürchterlichen Geschichten - gerne hier in den Kommentaren mit Angabe der Region (aber ohne Namensnennungen von Tierärzt*innen oder Tierkliniken) - lesen und möchte, dass andere Tierhalter*innen sie lesen.
Mich hat es im August 2021 erwischt - der Hund hat nicht überlebt und ich hätte ihm sehr viel Leid ersparen können, wenn ich nicht in der naiven Annahme, dass man in der Bundeshauptstadt ja wohl seinen freundlichen Dackeloiden versorgt bekommt, alles versucht hätte, um ihm zu helfen. Die Grausamkeit dieser Erfahrung, in der Not keine Hilfe zu bekommen, seinem Tier beim Leiden und Sterben zuzuschauen, die Verzweiflung aller (!) Beteiligten, also auch der tierärztlichen Mitarbeiter*innen und Tierärzt*innen über die Gesamtsituation, zu erleben, wenn man eigentlich Unterstützung sucht, war immens. Ich habe das Erlebte bis heute nicht verwunden.
Hier gibt es den Text noch in der lesefreundlichen Medium-Variante:
https://medium.com//b25800e7ec97