13/07/2024
Ich denke viel über das vergangene Wochenende nach, denn es hat mir nochmal einmal viel deutlicher gemacht, wofür ich eigentlich mit meiner Arbeit stehe. So ist aus dem versprochenen Seminar-Bericht nun ein längerer Blogbeitrag geworden 😊, den ich einfach hier mal mit Euch teile (im Blog findet Ihr ihn mit etwas mehr Fotos illustriert). Und wer Interesse hat, vielleicht auch einmal ein Seminar mit mir zu organisieren, schreibt mir einfach 🙃
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Erst verstehen, dann gestalten!
In einem Punkt unterscheidet sich meine Arbeit mit Pferden grundsätzlich von der herkömmlichen Weise. Im normalen Umgang und Training geht es um die Frage, wie wir erreichen können, dass ein Pferd etwas tut oder sein lässt. Es steht also immer ein Ziel im Vordergrund, welches dann mehr oder weniger nett verfolgt wird. Ich setze hingegen bei dem an, was ist: Ich möchte erst das Pferd verstehen, bevor ich damit beginne, etwas zu gestalten oder zu verändern. Wie das praktisch aussieht, erfährst Du in diesem Seminarbericht, denn genau darum geht es in meinem Freiraum-Training, dass ich bei Pferdefreunde mit Herz und Verstand vorstellen durfte. 🧡
Ich glaube, dass wir herkömmlicherweise bei so ziemlich allem, was wir mit Pferden machen, nicht am Anfang beginnen, sondern eher mittendrin:
- Wenn wir unser Pferd von der Wiese holen wollen, gehen wir zu ihm und ziehen ihm ein Halfter an.
- Wenn wir vorhaben, unser Pferd zu longieren, bekommt es einen Kappzaum auf und wir schicken es vorwärts.
- Wenn wir reiten wollen, zäumen und satteln wir es, steigen auf und reiten los.
„Ja, … und?“, magst Du nun vielleicht denken, weil genau das für die meisten von uns doch vollkommen normal ist. Tatsächlich ist es das für mich heute nicht mehr, denn ich setze davor an!
Wenn ich mein Pferd von der Weide holen möchte, fühle ich erstmal und nehme wahr, was ist. Schon auf dem Hinweg spüre ich nach, was ich heute an Gefühlen und Energien mitbringe. Vor Ort achte ich darauf, was vielleicht alles „in der Luft liegt“. Und ich nehme auch bewusst wahr, was mein Pferd ausstrahlt, bevor ich es halftere. Ich beginne also nicht mit dem, was ich vorhabe, sondern mit dem, was ist.
Für die meisten ist es ganz selbstverständlich, Umgang und Training so zu vollziehen, wie man es gelernt oder sich angeeignet hat. Wir tun einfach das, was wir immer tun, und kommen gar nicht auf die Idee, dieses Vorgehen in Frage zu stellen. In vielen Fällen klappt das ja auch – das Pferd lässt sich mehr oder weniger freiwillig halftern, läuft mehr oder weniger motiviert an der Longe los oder dreht mehr oder weniger fröhlich unter uns seine Runden. Dass es vielleicht auch ganz anders ginge, kommt uns nicht in den Sinn.
Was aber, was eben auch oft der Fall ist, wenn die Sachen nicht so glatt laufen? Wenn das Pferd, wenn wir kommen, ausweicht oder sogar wegläuft? Oder wenn es an der Longe nicht von unserer Seite weichen will oder sich losreißt? Wenn es unter dem Sattel nicht laufen mag, nicht auf die Hilfen reagiert oder zu buckeln beginnt? Selbst dann sind viele nicht dazu bereit, erst einmal innezuhalten und sich erst einmal zu fragen, was hier eigentlich gerade Sache ist. Sondern dann wird überlegt, wie man es schafft, dass das Pferd „funktioniert“ …
Erstmal das Pferd verstehen? Auf diese Idee kommen viele leider erst, wenn nichts mehr geht. Und das finde ich traurig. Und so lautet für mich der vielleicht wichtigste Grundsatz: Erst verstehen, dann gestalten!
Meiner Erfahrung nach lassen sich viele Trainingsfehler und Probleme mit Pferden vermeiden, wenn wir vor dem Tun erst einmal das Pferd verstehen – UND uns selbst! Und genau dieser Schritt ist auch entscheidend, wenn es um die Beziehung zwischen dem Pferd und uns geht. Wir haben es ja eben NICHT mit einem Gegenstand zu tun, sondern mit einem Lebewesen. Das bringt immer Eigenes mit, wie wir auch, und was wir tun, findet immer auch auf einer Beziehungsebene statt. Und das Bewusstsein darüber an den Anfang zu setzen, verändert alles.
(Für die kritischen Geister: Ja, wenn der Tierarzt oder die Hufpflegerin kommt, steht das Ziel im Vordergrund. Wenn ich das Miteinander insgesamt positiv gestalte, wird das Pferd kein Problem damit haben. Mir geht es hier ums Grundsätzliche.)
Um das Ganze ein bisschen anschaulicher zu machen, komme ich auf das Seminar zurück, indem ich genau so mit den ganz unterschiedlichen Pferd-Mensch-Paaren gearbeitet habe. Dem Freiraum-Training entsprechend wird gleich zu Beginn das Pferd von allem Zubehör befreit und hat den gesamten Raum der Halle oder des Reitplatzes zur Verfügung. Nun haben beide – Mensch UND Pferd – die Möglichkeit, sich mit dem zu zeigen, was ist.
Wir Menschen erzählen meist erst einmal etwas über den bisherigen Weg und vor allem, was noch nicht so gut ist. Ich meinerseits stelle auch einige Fragen, denn die Vorgeschichte ist genauso wichtig wie Informationen über Alter, Rasse, Haltung und mehr. So entsteht ein erstes Bild sowohl von dem Pferd, als auch von dem Menschen und von der Beziehung der beiden.
Parallel dazu tut nun aber auch das Pferd, wonach ihm gerade ist: Vielleicht schaut es sich um, vielleicht schnaubt es aufgeregt. Es kann sein, dass es erstarrt oder losrennt oder sich im Sand wälzt. Möglicherweise geht es zu seinem Menschen oder es schlendert zum Publikum. Vielleicht wirkt es neugierig, vielleicht ängstlich. Manchmal ist das Verhalten unauffällig, oft aber auch überraschend, denn diese Art von Freiraum ist für die meisten Pferde neu. Manche nutzen das gleich, andere nur zaghaft.
Der entscheidende Punkt ist, dass der so geschaffene Freiraum das ermöglicht, was im herkömmlichen Umgang oft gar nicht geht: dass sich das Pferd ausdrücken kann.
Die meisten von uns haben die Erwartung, dass Pferde jederzeit bereit zu dem sind, was wir machen wollen. Klar, ein paar Runden führen zum Ankommen, das machen viele. Aber wann fragen wir unser Pferd wirklich mal:
- Wie geht es Dir gerade?
- Was beschäftigt Dich?
- Und wie geht es Dir mit mir und dem, was ich von Dir will?
Denn ganz oft ist manches anders, als gedacht. Wir alle haben unsere Interpretationen und Erklärungen und in jeder Beziehung schleifen sich Muster ein. Manche davon sind zutreffend, angenehm und förderlich für beide, andere aber nicht. Manche verhindern sogar Entwicklung und Wachstum und dann geraten wir in eine Sackgasse. Um da wieder herauszufinden, müssen wir uns immer mal wieder von unseren gewohnten Aktivitäten und Erwartungen lösen. Und es braucht den Mut, ins Fühlen zu kommen.
Im Freiraum-Training geht es darum, einfach mal nicht gleich etwas zu tun oder zu fordern, sondern sich ein Stück zurückzunehmen. Dann können wir beobachten und wahrnehmen. Und erkennen und zulassen, was ist. Das macht es wiederum möglich, dass sich Türen neue Räume öffnen, die es gemeinsam zu gestalten gilt. Einfühlen, verstehen und dann damit arbeiten. Manchmal braucht es dann nur ganz kleine Änderungen oder Ideen, damit Pferd aus sich herauskommt und zu strahlen beginnt.
Bei allen vier Pferd-Mensch-Paaren gab es an dem Seminar-Wochenende ganz zauberhafte Veränderungen. Alle Beteiligten konnten nicht nur sehen, sondern mitfühlen, dass Freiräume für Offenheit und Gestaltungsmöglichkeiten sorgen.
Es gilt zu erkennen, dass manches Gewohnte eher hinderlich ist und schwer wiegt und wir es vielleicht lieber loslassen möchten. Daraus entsteht der Mut, einfach viel mehr auszuprobieren und zu schauen, wohin das hinführt. Nach und nach finden wir immer mehr Leichtigkeit und Freude, weil auf diese Weise so vieles möglich wird, von dem man nicht mal ahnte, dass es da ist. Und das erfahrbar zu machen – darum geht es mir. Denn dann gewinnen wir auch das wieder zurück, was wir leider so oft verlieren: die Freude an dem, was wir lieben – unser Pferd. 🧡