16/06/2022
Die fünf Jahreszeiten
Frühjahr:
Kleine Hufe jagen übermütig über das Gras. Kleine Pferdenüstern und Ohren erkunden wenn auch unbeholfen, aber vertrauensvoll Pflanzen, Mitbewohner und Geräusche in der neuen, unbekannten Welt. Kurze Schweifchen verjagen lästige Fliegen und Mücken. Und wenn etwas den neugierigen, unschuldigen Augen zu unheimlich scheint, wird in wildem Galopp auf den staksigen, viel zu langen Beinchen Schutz gesucht bei der Mama. Sie beruhigt und erklärt und schon bald wird das spannende Umfeld weiter erkundet – mit viel Glück zusammen mit anderen kleinen Pferdekindern. Die große, starke Mama ist ja da – nur für den Fall, dass die Pferdegeister wieder zurück kommen.
Noch haben die jungen Seelen keine Ahnung, für wen sie eines Tages bestimmt sind. Sie haben ja auch kein Mitspracherecht. Aber darum sorgen sie sich nicht, heute ist ein schöner Tag! Nach dem Spiel und dem Toben ruhen sie sich aus. Körper und Muskeln müssen wachsen, das Erlebte muss verarbeitet werden, im Traum trotzen sie dem unheimlichen Felltier mit den langen Ohren und gewinnen das Rennen.
So wachsen sie in ihrem Pferdefrühjahr zu jungen Wilden heran. Proportionen werden erkennbar, bald harmonisch. Es werden Jungs- und Mädelskämpfe ausgetragen und Freundschaften geschlossen. Wenn sie Glück haben, verbringen sie ihr Frühjahr im Himmel auf Erden.
Aber viel zu schnell ist Sommer, Zeit für die Grundschule…
Menschen kommen und nehmen sie mit. Man kann sie ja kaufen. Freunde werden getrennt. Der Schritt ins Erwachsenenleben wird getan…
Sommer:
Ich werde in einen dunklen, engen Stall gestellt, der wackelt.
Irgendwann geht die Tür auf und ich soll ihn wieder verlassen, aber eigentlich will ich gar nicht. Draußen ist alles unbekannt. Rückwärts stakse ich unsicher in mein neues Zuhause.
Ein guter Mensch hat mich gefunden. Das erste, was er mir verspricht ist, dass wir beide zusammen bleiben, was auch immer da kommt. Ich glaube, das ist etwas Gutes. Mein neues Zuhause besteht aus einem Zimmer mit Ausgang. Das ist schön! Nachts kann ich im Stroh stehen, fressen oder draußen schlafen und tagsüber spiele ich mit neuen Freunden. Nur spiele ich nicht mehr nur mit den anderen Jungs, sondern auch mit meinem Menschen. Komische neue Sachen macht er! Er jagt mir einen Schreck nach dem anderen mit so vielen komischen Dingen ein, aber nach ein paar Mal ist das alles gar nicht mehr so unheimlich in dieser Menschenwelt, die wir uns nun teilen.. Mein Mensch gibt mir Sicherheit. Wie Mama, damals…
Eigentlich macht es Spaß. Sogar dieses Ding, das man auf dem Rücken herumtragen soll. Ziemlich lange geht man nur damit spazieren, irgendwann ist es nicht mehr komisch auf dem Fell und am Bauch. Und das Ding, das ich am Kopf tragen soll, ist auch nicht viel anders als das, das ich anziehe, wenn wir spazieren gehe. Mein Mensch sagt, er mag mir kein Metall ins Maul legen.
Der Mensch zeigt mir auch Gymnastik, damit ich ihn irgendwann mal auf dem Rücken tragen kann. Ich kann das schon verstehen, er hat ja nur zwei Beine und ist langsam wie eine Schnecke. 🙃 Auf jeden Fall, wenn wir Wettrennen machen.
Ich mag meinen Menschen. Er ist immer da, macht komische Geräusche, aber einige kann ich schon erkennen. Eins davon ist mein Name. Wenn ich ihn höre und es ist mein Mensch, der ihn ausspricht, trabe ich auf ihn zu. Ich wiehere ihm mein Hallo entgegen. Darüber freut er sich ein Loch ins Knie.
Und ich fühle eine Schwingung, eine sehr positive, warme Schwingung, die mir gut tut, wenn er mich angurrt und mir seine Hand hinhält bei der Begrüßung. Die Menschen nennen es Liebe.
Ich mag es, wenn er sein Gesicht an meinen Hals lehnt oder auch, wenn er mich mit seiner Gummihand massiert. Das erinnert mich an Mama. Manchmal halte ich ihm meinen Popo hin, damit er ihn krault, das hat Mama damals auch gemacht. Ich genieße das sehr!
An einem Tag sollte ich wieder den Sattel tragen, aber diesmal war es anders. Mein Mensch hat sich darauf gesetzt. Erst war ich ja ein wenig verwirrt, plötzlich war er weg aber doch da, etwas war schwer auf meinem Rücken...als ich dann mal zur Seite gesehen habe, sah ich ihn oben. Da war ich beruhigt. Es war ein wenig komisch, weil ich erstmal mein Gleichgewicht mit ihm finden musste, aber nach einigen Minuten war es in Ordnung und ich habe geparkt, weil nichts weiter passiert ist. Kurz darauf war es wieder leicht auf meinem Rücken und da war er wieder – mein Mensch, neben mir. 🤗
Mittlerweile sind wir schon ganz oft unterwegs gewesen. Ich werde immer kräftiger und ich trage meinen Menschen gerne auf meinem Rücken. Wir machen tolle Gymnastik zusammen, manchmal fällt es mir schwer, aber dann muss ich auch nicht weitermachen. Auch wenn es mir gerade Spaß macht, hören wir oft auf. Mein Mensch sagt, man soll Schluss machen, wenn es gut ist. Ich freue mich immer schon darauf, ihm zu zeigen, was ich behalten habe!
Manchmal macht mein Mensch auch Fehler, sagt er, das behalte ich natürlich auch 😁 Aber er findet das nicht schlimm, er sagt, wir lernen noch unser ganzes gemeinsames Leben lang.
Wir jagen durchs Gelände, machen Gymnastik auf dem Platz, wir spielen auch am Boden miteinander oder ich bekomme Aufgaben und versuche, sie zu lösen. Oft bringe ich ihn zum Lachen. Wir gehen grasen und spazieren, manchmal sitzt mein Mensch auch einfach bei mir.
Jetzt, sagt mein Mensch, bin ich so gut, dass wir fortgeschrittene Gymnastik machen können. Er sagt, das ist wichtig, da er auf mich aufpassen muss, damit ich keinen Schaden nehme, weil er auf mir sitzt. Wir bewegen uns immer geschmeidiger zusammen, ich habe Kraft und trage ihn gerne. Ich horche auf seine Hilfen, die er mir ganz sachte gibt. Und wenn es klappt, freuen wir uns beide!
Ganz oft sagt er mir, dass ich immer schöner werde! Ich weiß, dass er sein Bestes gibt, damit es mir gut geht.
Viele Jahre verbringen wir gemeinsam, entwickeln uns weiter und genießen unser Leben.
Herbst:
Mein Mensch sagt, ich bin sein Meister. Wenn er mich reitet, ist es wie ein Spiel. Wir sind im Gleichgewicht.
Ich bin nicht mehr ganz so temperamentvoll wie im Sommer, aber mein Mensch auch nicht :-)
Regelmäßig machen wir unsere Gymnastik, unsere Ausflüge in den Wald sind insgesamt ruhiger, ich möchte nicht mehr soo lange soo schnell laufen, aber ich bin noch kräftig und wir haben immer noch soviel Spaß zusammen.
Winter:
Mein Mensch hat weiße Haare, so wie ich mittlerweile.
Manchmal tun mir die Knochen weh. Mein Mensch sagt, ihm auch. Er geht viel mit mir spazieren.
Dann geht es uns beiden besser.
So ganz gut essen kann ich nicht mehr, obwohl ich immer beim Zahnarzt war.
Ich habe auch manchmal Probleme mit der Luft. Der Arzt sagt, da ist was im Weg.
Mein Mensch sagt dann, das geht ihm genauso.
Manchmal hat mein Mensch ein nasses Gesicht. Ich spüre etwas, das Menschen Traurigkeit nennen.
Ich versuche dann, ihn zu trösten. Ich lege meinen Kopf auf seine Schultern und sage ihm, alles ist gut!
Ewigkeit:
Gerade hat mein Mensch wieder an mich gedacht! 😊❤️ Er hat ein Bild von uns beiden in der Hand und mich gefragt, ob ich noch weiß, wieviel ich ihm bedeute, wie schön das Leben zusammen war und ob er wohl immer alles richtig gemacht hat..
Sein Gesicht ist wieder nass…
Ja, sag ich, ich weiß es noch! Und weißt du noch, wie ich mich immer gefreut habe, wenn du kamst? Erinnerst du dich, was du mir versprochen hast, als du mich geholt hast? Dass wir ein Leben lang zusammen bleiben? Ich hatte keine Idee, was das heißt, ich lebte im Hier und Jetzt.
Ich danke dir, mein Mensch! Das war für mich das Wichtigste! Ich war ein glückliches Pferd.
Eines Tages sehen wir uns wieder. Das weißt du.
Ich sehe meinen Menschen unter Tränen lächeln.
Ich weiß, sagt er.