19/05/2020
Aus der Sicht unserer ältesten Schildkrötendame:
Vor 22 Jahren schlüpfte ich aus meinem Ei. Ich kann mich eigntlich rein gar nicht mehr daran so genau erinnern. Da sind nur mehr einzelne, verschwommene Bilder da. Z.Bsp. der Moment, als ich meine langjährige Freundin das erste mal sah. Es war in einer Zoohandlung. Ich vernaschte gerade mit meinen Geschwistern ein paar Tomatenstücke, als sie mit dem Finger auf mich zeigte. Der Zoofachhändler nahm mich hoch und legte mich in ihre Hand. Ich war kaum größer als eine 2 Euro Münze. Sie sah mir in die Augen und flüsterte irgendwas mit liebevoller Stimme.Ich wusste damals schon, dass ich ihr Herz gewonnen hatte 😉. „Im Winter in einer Schachtel mit Laub in den Keller stellen und im Frühjahr wieder rauf holen. Mehr ist es nicht. Sie fressen alles an Obst und Gemüse und ein Hasenkäfig mit Einstreu reicht völlig! Papiere würden 200 Schilling kosten. Die hab ich jetzt aber nicht da. Müsst ich beantragen. Ansonsten kannst du sie gleich um 900 Schilling mitnehmen.“ Das waren die letzten Worte, die ich vom Zoofachhändler hörte. Ich sah ihn nie wieder. Meine neue Freundin gab mir den Namen „Gizmo“ und bemühte sich sehr, es mir in meinem neuen Heim gemütlich zu machen. Sie befolgte die Tipps des Händlers. Ich bekam Paprika, Gurken, Zucchini, Tomaten, Äpfel, Erdbeeren und an manchen Tagen auch Bananen. Ich würd jetzt nicht behaupten, dass mir das nicht geschmeckt hätte, aber ich fühlte mich nie wohl danach. Nur konnte ich es leider meiner Freundin nicht mitteilen. Im Frühjahr, als ich nach meiner Winterruhe ( ich war viel mehr wach, als schlafend unter dem viel zu warmen Laub, in dem viel zu warmen Keller) bekam ich ein schönes neues, mit Holz umrahmtes Zuhause in der Wiese im Garten. Ein kleines Holzhäuschen wurde meine neue Schlafstätte. Ich weiß nicht, aber irgendwie wurde es mir schon kurz darauf zu langweilig. Es war keine Mühe, in der Ecke der ca. 40 cm hohen Holzlatten hinaufzuklettern und mich auf die andere Seite fallen zu lassen. Ich wollte unbedingt die Welt sehen. Unterwegs hörte ich meine Freundin noch nach mir rufen und auch die anderen, die mit ihr in einem Haushalt lebten, riefen nach mir. Aber ganz ehrlich, ich sah die Gelegenheit mein Leben selber in die Hand zu nehmen und der Löwenzahn und das Klee auf dieser Wiese, ließen nur darauf schließen, dass am Ende des Weges noch viel mehr Köstlichkeiten auf mich warten würden. Ich wanderte weiter. Und ich sollte recht behalten. Meine Augen erblickten herrliche, junge Karottenpflänzchen, die ich mit Genuss verschlang. Aber schon nach kurzer Zeit, hob mich jemand in die Höhe und übergab mich meiner Freundin. Es stellte sich heraus, dass ich über ein Feld zu einem Nachbarn wanderte, dem es gar nicht gefiel, dass sein Gemüsegarten zu meinem Nachmittagssnack wurde. So kehrte ich wieder zurück und bekam über mein Zuhause auch noch ein Gitter darauf. Meine Einöde begann. Jahrelang verbrachte ich Tag für Tag mit Einsamkeit, lediglich ein paar Momente kam meine Freundin zu mir, fütterte mich, beobachtete mich eine Weile und redete mit mir. Sie streichelte mich immer am Oberkopf, was ich auch heute noch sehr genieße. Sie meinte es gut, wusste aber nicht, wie sehr ich unter meiner Einsamkeit litt.
Und plötzlich, eines Tages machte ich Bekanntschaft mit einem netten, sehr netten jungen Herren meiner Gattung. Sein Name war „Franklin“ und er gehörte zu dem netten Burschen, den meine Freundin vor mittlerweile fast 13 Jahren kennen und lieben lernte. Ich war ganz aus dem Häuschen.Naja, soweit man das bei uns Schildkröten sagen kann. Franklin war etwas jünger als ich, aber auch er lebte in Einsamkeit.Für mich und ihn begann unser neues Leben. Wir zogen in ein neues Gehege um, bekamen wärmende Frühbeete zum Schlafen, man pflanzte uns Gräser und Kräuter, unter denen wir uns herrlich in der Mittagssonne zurückziehen konnten, wir bekamen Löwenzahn, Spitzwegerich, Klee und was sonst noch auf den Wiesen wächst, zu fressen. Meinem Magen ging es jeden Tag besser und ich wurde aktiver. Wir bekamen Sepiaschalen und mit Steinen die Gelegenheit, unsere Krallen zu runden. Uns ging’s gut. Man merkte, dass sich unsere „Besitzer“ gut informierten und alles taten, um uns ein artgerechtes Leben zu ermöglichen. Wir überwintern seither, nach einer kurzer Vorbereitung, im Kühlschrank bei konstanten 6 Grad Celsius. Noch nie fühlte ich mich so vital und aktiv nach einer Winterruhe. Kurz darauf zogen noch weitere Artgenossen bei uns ein. Mein Leben genoss ich so sehr, dass Franklin und ich beschlossen uns um Nachwuchs zu kümmern. Leider klappte es bei den ersten Malen nicht und meine Eiablagen blieben ein erfolgloses Erlebnis. Wir gaben aber nicht auf. 2013 schlüpfte dann nach ca. 60 Tagen im Brutkasten unser erstes Baby. Aber auch dieses Mal waren 3 Eier vergebens von mir gelegt worden. Umso größer war die Freude bei uns allen, dass wenigstens ein kleines Wunder das Licht der Welt erblickten durfte. Es war von Anfang an der Liebling meiner Freundin. Damals wussten wir noch nicht, dass dieser kleiner Racker ein sehr schicksalshaftes Leben schon in jungen Jahren führen würde. Vielleicht erzählt euch meine Freundin ja die Geschichte bei Gelegenheit. Jedenfalls bekam mein erster Liebling auf Grund einiger Schicksalsschläge, die er oder sie meisterte, den Namen „Bam Bam“.
Heute bin ich 22. Ich lebe mit 7 weiteren Weibchen und Franklin in einer ausgeglichenen, harmonischen Gruppe.Unsere abgegrenzten Nachbarn sind 4 Testudo marginata (Breitrandschildkröten). Und da gibt es noch den „Kindergarten“, in dem unsere Jungen und 1 Breitrandbaby wohnen. Wir alle leben auf ca. 70 Quadratmeter und haben viele Rückzugsmöglichkeiten, sodass man jedem aus dem Weg gehen kann, der einen nerven könnte. Soll vorkommen. Insgesamt stehen uns 4 Bruthügel zur Verfügung, in denen wir (mühevoll) unsere Eier ablegen können. Unser Futter ist frisch und es gibt alles was auf der Wiese wächst. Wir alle kennen unsere Menschenfreunde sehr gut und kommen jedesmal mit Freude aus unseren Verstecken, wenn sie das Gehege betreten. Auch unsere Babys sind schon sehr an Menschen gewöhnt und haben keine Scheu. Was unsere Freunde jedem Einzelnen übermitteln ist, dass wir keine Kuscheltiere sind und es gar nicht gern haben, wenn man uns aufhebt oder herumträgt. Außer wenn wir uns unseren regelmäßigen Gesundheits-Check unterziehen müssen bleibt uns keine Wahl. Und wenn wir unsere Streicheleinheiten brauchen, kommen wir von selbst zu ihnen und dann werden wir am Hals, am Kopf und an den Füßen gestreichelt. Aber wir genießen diese Momente umso mehr.
Das, im Großen und Ganzem, war mein bisheriger Lebensweg. Ich habe noch viele Jahre vor mir und werde sie, mit meiner Gruppe, in vollen Zügen genießen.