15/12/2024
Hundeerziehung – ein lukrativer Irrtum?
Hundeerziehung ist ein so allgegenwärtiges Wort geworden, dass kaum jemand mehr über dessen eigentliche Bedeutung nachdenkt.
Über Hundeerziehung wird heftig diskutiert und oft bis aufs Blut gestritten. Die Fronten sind verhärtet und Einigung ist nicht in Sicht, denn mittlerweile ist das Thema viel zu komplex, als dass man dabei auf einen wirklich grünen Zweig kommen könnte.
Als Grundlage dient allen Beteiligten die vielstrapazierte Lerntheorie.
Positive Verstärkung (etwas Angenehmes wird hinzugefügt)
Negative Verstärkung (etwas Unangenehmes wird entfernt)
Positive Strafe (etwas Unangenehmes wird hinzugefügt)
Negative Strafe (etwas Angenehmes wird entfernt/vorenthalten)
Ja, Lernen funktioniert so. Zumindest wenn man die emotionale Komponente kurz ausklammert.
Etwas, das angenehme Reaktionen hervorruft, wird öfter gezeigt.
Etwas, das unangenehme Folgen hat, wird weniger oft oder nicht mehr gezeigt.
Das wissen alle, die sich mit (Hunde)erziehung beschäftigen. Nur bedenkt kaum jemand, dass Lernen IMMER stattfindet – nicht nur, wenn wir bewusste Aktionen setzen.
Während uns die eine Seite erklärt, dass es moralisch wertvoller ist und auch nachhaltiger funktioniert, wenn erwünschtes Verhalten belohnt und unerwünschtes ignoriert oder durch erwünschte Alternativen ersetzt wird,
will uns die andere Seite weismachen, dass es für den Hund leichter verständlich ist, wenn unerwünschtes Verhalten durch körperliche Angriffe und/oder verbale Zurechtweisungen nachdrücklich verboten und erwünschtes als Normalzustand hingenommen und bestenfalls durch Futter oder Lob belohnt wird.
Überraschung: Beides funktioniert! Denn all das besagt die Lerntheorie.
Beide Seiten werden nicht müde, immer neue wissenschaftliche Beweise für die Bestätigung ihrer Vorgehensweise zu erbringen. Beide Seiten können spektakuläre Erfolge vorweisen. Beide Seiten bringen neue Methoden mit neuen Namen und neuen Protagonisten hervor. Und all diese Methoden finden ihre Anhängerschaft, weil Hundeerziehung eben ausschließlich vom Menschen, der sie praktiziert, abhängt.
Wo sich der Mensch verstanden fühlt, zieht es ihn hin.
Hundeerziehung ist immer das Outing eines Menschen.
Die Diskussion ist weltweit mittlerweile völlig festgefahren und jeder hat seine persönlichen Intimfeinde in der jeweils anderen Glaubensgruppe. Sogar innerhalb der beiden großen Gruppen gibt es Strömungen, die einander spinnefeind sind und sich gegenseitig jegliches Wissen absprechen.
Ich selbst war an unzähligen dieser Diskussionen beteiligt und obwohl ich eindeutig der einen Seite, nämlich der der positiv verstärkenden Menschheit zuzuordnen wäre, konnte ich nie für mich greifbar und schlüssig benennen, was genau mich dennoch an vielen Aussagen dazu so massiv gestört hat.
Mittlerweile weiß ich es. Ich glaube, dass all diese Hundeerzieher, egal aus welcher Ecke sie kommen mögen, einfach zu früh abgebogen sind.
So, als wenn man zu einem bestimmten Ort reisen möchte, die erste Abzweigung nimmt und denkt, man sei angekommen, während die eigentliche Straße noch viel weiter führt und an einem wirklich paradiesischen Ort endet.
Oder so als wenn man sich in allen Details mit einem Samenkorn beschäftigt, dessen Aufbau studiert und dann Jahrzehnte lang drüber diskutiert, welche Moleküle daran beteiligt sein könnten. Währenddessen wächst daraus unbemerkt die schönste Blume und keiner sieht sie, weil alle am Boden herumkriechen und darüber streiten ob das Samenkorn links oder rechts des Weges besser aufgehoben wäre.
Hunde sind dafür leider die geborenen Opfer, weil sie sich ohne, dass wir es mitkriegen, an ihr von uns gewähltes Leben anpassen. Und wir meinen dann, unsere Erziehungsmethode wäre die Ursache dafür.
Ich denke ja, dass die meisten Hunde eher trotz unserer vielfältigen Erziehungsversuche ganz angenehme Hausgenossen werden und nicht wegen derselben.
Warum assoziiert man unweigerlich Hunde mit „Erziehung“, „Unterordnung“ und „Gehorsam“?
Bei keinem anderen Tier kommen uns diese Worte ähnlich präsent in den Sinn. Katzenerziehung? Kuh-Erziehung? Esel-Erziehung?
Was ist „Erziehung“ überhaupt in diesem Zusammenhang und warum denken wir, wir müssten Hunde erziehen, unterordnen oder sie Gehorsam lehren?
Warum plagt uns der Chefwahn ausgerechnet bei unseren angeblich besten Freunden? Oder bezeichnen wir sie nur so, weil wir uns oft darüber definieren, wie sehr uns unser Hund „folgt“?
Müssen unsere Hunde immer noch etwas ausbaden, das ein Wolfsforscher einmal irrtümlich als „Rangordnung“ bezeichnet und mittlerweile längst widerrufen hat?
Ich möchte ein wenig provokant in den Raum stellen, dass wir durch planmäßiges Vorgehen bei Weitem weniger beeinflussen, als durch unser unbewusstes Handeln.
Es dreht sich immer im Kreis, weil alles, was wir für Erziehung halten („ich möchte, dass Du Dich auf eine bestimmte Weise benimmst“), das ist, was wir selbst gern wären und das, was nebenbei ohne drüber nachzudenken passiert, die eigentliche Einflussnahme auf das Verhalten anderer ist.
Weiter gesteckte Grenzen (also generelle Lockerheit) sind sehr viel leichter einzuhalten als enge Grenzen, die als Herausforderung zur Übertretung angesehen werden – bei Hunden und bei Kindern.
Die größte Hürde scheint aber zu sein, dass sich Menschen sehr schwer damit tun, Andersartigkeit zu akzeptieren ohne sie ändern zu wollen.
Was erwarten wir von Hunden?
Je nachdem, wie wir Hunde betrachten und aus welchen Gründen wir sie in unser Leben geholt haben, erwarten wir bestimmte Fertigkeiten und Verhaltensweisen von ihnen.
Diese Erwartungen sind bei genauer Betrachtung derart hoch gesteckt, dass es wirklich erstaunlich ist, wie viele Hunde diese tatsächlich erfüllen können.
Sie sollen sich flugs an unsere Lebensumstände anpassen (und das möglichst unauffällig),
auf unser Hab und Gut aufpassen (dabei aber bitte nicht bellen),
an jeder Art von Hundesport teilnehmen (und das gefälligst konzentriert),
danach still unter dem Tisch liegen, während wir uns selbst auf die Schultern klopfen,
daheim allzeit bereit (aber unauffällig) darauf warten, dass wir Lust haben spazieren zu gehen, nur um währenddessen ignoriert zu werden,
das eigene Futter klaglos akzeptieren und niemals das Unsere fordern (betteln, igitt!),
auf abstruseste Kommandos hören und gefälligst unterscheiden ob wir es gerade „ernst“ meinen oder nicht,
sich Dinge, die sie brennend interessieren, verbieten lassen und stattdessen brav „bei Fuß“ weiter trotten,
an viel zu kurzer Leine gehen und sich die Schuld daran geben lassen, dass diese ständig gespannt ist,
menschliche Unhöflichkeiten unkommentiert ertragen,
Artgenossen wahlweise ignorieren (auch wenn sie sich wie Arschlöcher benehmen) oder mit ihnen spielen (obwohl sie dazu nicht die geringste Lust haben),
immer gut gelaunt sein und sämtliche menschlichen Stimmungen ausgleichen.
Was wird gemeinhin als Hundeerziehung angesehen?
Zusammengefasst könnte man sagen, dass „Erziehung“ dazu dienen soll, unsere Erwartungen zu erfüllen. Oder die, anderer Menschen.
Ist es tatsächlich so schwer, Hunde als andersartige, aber gleichwertige Lebewesen zu akzeptieren und dementsprechend auf sie einzugehen, wenn wir schon große Teile unseres Lebens (und ihr gesamtes!) mit ihnen verbringen möchten?
Ich finde es geradezu absurd, was wir mit Hunden im Namen der Erziehung veranstalten.
Wir holen uns Lebewesen ins Haus, die über die exakt gleichen Gefühle verfügen wie wir, die uns an sozialer Kompetenz überlegen und uns vollkommen ausgeliefert sind.
Wieso möchten wir solche Geschöpfe beherrschen, anstatt ihre Freundschaft zu suchen?
Wieso ersinnen wir komplizierte Pläne und Methoden, um sie an unser Leben anzupassen anstatt zu versuchen mit ihnen zu kommunizieren?
Wieso glauben wir, aus erhöhter Position agieren zu müssen?
Warum glauben wir lehren zu müssen, anstatt von ihrer Andersartigkeit zu lernen? Hunde können das – warum wir nicht?
Ich glaube, dass wir durch all unsere Erziehungsmethoden, egal ob freundlich oder nicht, mehr Abstand erzeugen als Nähe, weil wir es nicht schaffen, unseren Machtanspruch abzuschütteln und ständig versuchen, Hunde zu ändern anstatt zu lernen, mit ihrer Andersartigkeit umzugehen.
Sollte uns eigentlich leicht fallen, wenn man bedenkt, dass wir uns für die Krone der Schöpfung halten.
Was ist „Erziehung“ und was „Training“?
Erziehung hat unsere Definition von „brav“ als Ziel.
Training ist die Übung dazu.
Wer von Euch würde, wenn er nach Plänen, Hoffnungen und Zielen für sein Leben gefragt würde mit „brav sein“ antworten?
Niemand? Hmm....
Von unseren angeblich besten Freunden erwarten wir aber genau das!