11/08/2024
"The missing link:
Es gibt sie doch noch Landärzte, die ihre Patienten von der Geburt bis zum Tode begleiten!
Detail am Rande:
Obwohl ich ein freies Wochenende habe, erwischte mich ein Tierbesitzer mit seinem Hund und einem akuten Atemwegssyndrom vor der Ordi und ich durfte helfen!"
Kathrin Sieder in der Hausapotheke ihrer Ordination: „Hier am Land gibt es ein starkes Vertrauen, das mir die Patienten schenken“
„Ich will die Menschenvon der Geburtbis zum Tod begleiten“
INTERVIEW. Kathrin Sieder betreut täglich 100 Patienten in ihrer Landarztpraxis. Warum sie ihren Job liebt und wo es im Gesundheitssystem krankt.
Von Oliver Pokorny
Das Gesundheitssystem liegt in vielen Bereichen im Argen. Dies zeigt sich auch daran, dass es zu wenige Ärzte gibt, die vorhandenen sind oftmals am Limit und frustriert. Wie geht es Ihnen hier in der Landarztpraxis?
In einer Landarztpraxis muss der Arzt Lebensbegleiter seiner Patienten, fachlicher Tausendsassa und Dienstleister sein.
Kathrin Sieder
Ich mag das Gejammere um zu geringe Bezahlung nicht. Grundsätzlich ist das Verrechnungssystem aber absurd und veraltet.
Kathrin Sieder
KATHRIN SIEDER. Das ist mein Traumjob. Es ist schön, wenn ich Babys impfe, und es ist schön, wenn ich über 100-Jährigen am Lebensende helfen darf. Ich will die Menschen von der Geburt bis zum Tod begleiten, also echte Familienmedizin betreiben. Man bekommt von den Patienten sehr viel zurück. Ein Dankeschön, so wie ein Kuchen oder ein paar Eier als kleines Geschenk für mein Team und mich, ist die Bestätigung dafür, dass ich einen guten Job mache.
Wie unterscheidet sich Ihr Beruf von einem Job im Spital?
Ich begleite die Menschen über lange Zeit und kenne sie dadurch gut. Ich behandle Kinder, die sagen: Ich will nur zu meiner Frau Doktor Kathi – egal wie schlecht es den Kleinen geht. Patienten, die während meines Urlaubs erkranken, kommen nach meiner Rückkehr in die Ordination und sagen: Ich habe die ganze Woche mit Schmerzen durchgebissen und gewartet, bis Sie wieder da sind, weil ich zu keinem anderen Arzt will. Freilich bin ich kein Held, aber hier in der Landarztpraxis gibt es ein starkes Vertrauen, das mir die Patienten schenken.
Das klingt nach Bergdoktor-Romantik …
Die ich ganz und gar nicht mag. Aber es ist eben so: Hier am Land bist du Lebensbegleiter und musst fachlich Tausendsassa und Dienstleister sein. Die medizinische Bandbreite ist extrem groß, ich kann mich fachlich jeden Tag entfalten. Das geht von langen Gesprächen mit Patienten, die eigentlich kein körperliches, sondern ein seelisches Problem haben, bis zu kleinen chirurgischen Eingriffen und ab und an lebensrettenden Maßnahmen. Daher habe ich mich ja auch gegen einen Job im Spital entschieden: Ich mag die Abwechslung.
Hat die Landärztin weniger Stress als ein Spitalsarzt?
Nein, aber eine bessere Zeiteinteilung und einen schönen Arbeitsplatz. Pro Woche habe ich bis zu 600 Kontakte. Da ist alles dabei: eine lebensrettende Maßnahme, eine aufwendige Therapie, eine Visite außerhalb der Ordination, die Ausstellung eines Rezeptes oder eine Blutabnahme. Im Schnitt sind es 100 Patienten pro Tag. Entscheidend ist, dass du zuerst jene herausfilterst, die wirklich gefährdet sind.
Klingt nach einem sehr hohen Einkommen?
Ich mag das Gejammere um zu geringe Bezahlung nicht. Natürlich komme ich gut aus. Grundsätzlich ist das Verrechnungssystem aber absurd und veraltet. Für eine Infusion bekomme ich sieben Euro und 20 Cent, ein Wahlarzt verrechnet für eine Vitamin-C-Hochdosis-Infusion 120 Euro. Mache ich eine Ultraschalluntersuchung, bekomme ich gar nichts. Ich kann nur einen Teil der Konsultationen abrechnen, vieles davon ist gedeckelt. Aber ich will das bezahlt bekommen, was ich arbeite. Zeigen Sie mir einen Mechaniker, der bei der dritten Reparatur, wenn das Auto noch immer nicht funktioniert, nichts verrechnet.
Die freie Arztwahl ist aber schon sinnvoll, oder?
Ja, selbstverständlich. Ein Problem sehe ich allerdings darin, dass die Kassenmedizin den Ruf hat, nichts wert zu sein, viele Menschen aber – symbolhaft gesprochen – dem honorigen Professor 200 Euro für eine Untersuchung zahlen, und genau diese Menschen mich dann bitten, ihnen den Befund zu erklären. Warum haben die Patienten vorher gedacht, dort besser behandelt zu werden als bei mir?
Ihre Antwort auf diese Frage lautet wie?
Weil leider auch in der Medizin zu viele Menschen glauben, das Teure sei automatisch das Bessere. Ich bin mir jedenfalls sicher: Wir alle versuchen, täglich unser Bestes zu geben und gute Medizin zu betreiben, egal ob Kassenarzt oder Wahlarzt. Oft haben wir allerdings im Kassensystem nicht ausreichend Zeit für unsere Patienten.
Warum droht das Gesundheitssystem in vielen Bereichen zu kollabieren?
Wir haben seit 30 bis 40 Jahren Systemfehler, die von der Politik nicht behoben werden. Niemand traut sich, entscheidend einzugreifen, zwischen den Dauerwahlkämpfen wird zu wenig Essenzielles entschieden, es wird dahingewurschtelt. Es wird sehr lange dauern, bis die Versäumnisse nachgeholt werden können, falls sich das überhaupt noch ausgeht. Sonst wird es fraglich, wer uns in Zukunft noch behandeln wird – und in welcher Qualität.
Wo bekommen Sie als Ärztin die Systemfehler zu spüren?
Ein Beispiel: Wenn ich als Allgemeinmedizinerin Patienten nicht mehr in bestimmte Spitalsabteilungen zuweisen darf, weil ich keine Fachärztin bin, sich aber jeder Patient in jede Abteilung selbst einweisen kann, egal was er hat, dann stimmt da wohl etwas nicht. Ich hoffe, dass wir durch die neue Facharztausbildung eine Aufwertung erfahren und damit eine Kommunikation auf Augenhöhe mit den Kollegen möglich sein wird.
Wie bekommen Patienten den Ärzte- und Schwesternmangel zu spüren?
Oftmals dadurch, dass sie leider viel zu früh aus dem Krankenhaus entlassen werden. In einem Zustand, mit dem sie noch vor Jahren sicherlich stationär aufgenommen worden wären. Im Entlassungsbrief steht ja immer: Patient wird in gutem Allgemeinzustand in die häusliche Pflege entlassen. Oftmals fehlt allerdings die entsprechende Betreuung zu Hause. Zusätzlich werden seitens der Spitäler lange Listen an Untersuchungen angeordnet, die wir im niedergelassenen Bereich organisieren sollen, für die es dann aber keine Termine bei den Fachärzten gibt.
Wo stehen Sie in der ethischen Diskussion um Schwangerschaftsabbruch und aktive Sterbehilfe?
Im tiefsten Inneren bin ich eine Freiheitskämpferin. Grundsätzlich sollte daher, unter entsprechend strengen gesetzlichen Rahmenbedingungen, jede Frau das Recht haben, eine Schwangerschaft abzubrechen. So wie jeder Todkranke das Recht auf Sterbehilfe haben sollte. Ich möchte dabei aber keine aktive Rolle spielen.
Zur Person
Kathrin Sieder war fünf Jahre alt, als sie von Graz nach Hengstberg in die westliche Südsteiermark zog, wo ihr Vater eine Landarztpraxis übernahm. Die heute 46-Jährige studierte zu einer Zeit, als es zu viele Medizinabsolventen für die vorhandenen Stellen gab. Sie durchlief die Turnusausbildung in mehreren Spitälern und arbeitete als Vertretungs- und Stationsärztin. 2018 übernahm sie die Ordination ihres Vaters. Kathrin Sieder ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern.