22/08/2022
Zwei sehr, sehr lesenswerte Artikel meiner Kollegin Nora zum Thema Rassehundezucht.
Es muss sich etwas ändern, sonst sinkt der Dampfer unweigerlich.
GEDANKEN ZUR ZUCHT VON HUNDEN - IDEEN
Wenn man als Biologin eine Sache weiß, dann dass die Natur sehr gut ohne uns klarkommt. Gilt das auch für Hunde? Ja, sicher. Das sieht man zwar nicht hier in Deutschland, aber in vielen anderen Ländern, in denen Hunde – unter anderem – mit Menschen leben, ohne ihnen mit Haut und Haar und Genitaltrakt zu gehören. Nur Rassehunde gibt es dann nicht. Lange bevor Rassehunde ein gesellschaftliches Ding wurden, gab es Hundetypen, also Hunde, die bestimmte Eigenschaften für bestimmte Bedürfnisse des Menschen erfüllten. Wenn sich ein Hund besonders dazu eignete, eine Herde Schafe gegen Raubtiere zu verteidigen, dann war die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Hund sich vermehren durfte und seine Nachkommen überlebten, höher als bei anderen Hunden. Survival oft the fittest – for humans. Es gab Hundetypen für die Jagd, den Schutz, das Hüten und als Gefährten für die Familie. Auch auf sehr alten Darstellungen sieht man, dass es Hunde in verschiedenen Größen gab und solche, die massiger waren als andere.
Erst als der Mensch aufgeklärter war und durch sein Wissen mehr über die Kontrollierbarkeit von natürlichen Vorgängen verstand, wurde vermutlich aus einem „Ich will sowas wie sowas.“ Ein „Ich will genau so einen!“. Bis heute sind Menschen immer noch sehr überrascht, dass Hunde, die gleich aussehen und Wurfgeschwister sind, zu ganz unterschiedlichen Hunden werden können. Denn das, was der Hund mit seinen Genen mitbekommt, ist nur das Fundament, auf dem sich das aufbaut, was durch Lernprozesse geformt wird. Daran hat die Umwelt Mitschuld und – vor allem heute, wo Hunde förmlich auf der Couch aufwachsen – die Menschen, die den Hund halten. Die Idee sitzt sehr hartnäckig in den Köpfen, dass man mit einem Rassehund genau den Hund bekommt, wie er in romantisierenden Rassestandards und -büchern beschrieben wird. Den treuen Begleiter, der Fremde mal mehr und mal weniger willkommen heißt, der einen immer begleitet oder – wie man selbst – voll gerne den ganzen Tag auf der besagten Couch abhängt. Und dabei sieht der Hund genau so aus, wie man sich das vorgestellt hat. Das ist der große Vorteil von Rassehunden: Verpaart man zwei, kommt mit Sicherheit das raus, was vorher seine Chromatiden miteinander verrührt hat.
In der Biologie gibt es ein genaues Prozedere, wenn eine neue Art entdeckt wird: Die Art wird so genau wie möglich beschrieben. Woran? An sogenannten Referenzindividuen, die konserviert werden. Diese Tiere werden der Natur entnommen und gelten ab da als Vergleichstier für die ganze Art. Idealerweise werden mehrere Tiere konserviert (sog. Paratypen), denn es ist nicht so, dass alle Tiere einer Art exakt gleich wären, aber es gibt normalerweise ein Tier, das als sogenannter Holotypus angesehen wird. Darüber hinaus gibt es Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen, Jung- und Alttieren, zwischen Populationen in unterschiedlichen Habitaten. mit anderen Nahrungsquellen oder anderen Parasiten. Irgendwo ist immer irgendein Selektionsdruck, der einen etwas anderen Typus bevorteilt, mag es Gewicht, Größe, Farbe oder Verhalten sein. Forscher*innen fügen also im Laufe der Zeit neue Daten hinzu, beschreiben die Tiere gleicher Art aus einem anderen Habitat, geben die Werte für diese Tiere ein, beschreiben Besonderheiten im Verhalten usw. Daraus ergibt sich ein Gesamtbild von der Variabilität und der damit verbundenen Diversität einer Art. (2)
Das System der Systematik hilft uns Menschen, Lebewesen benennen zu können und Wissen über sie zu sammeln. Das Konzept der Arten ist aber kein Naturgesetz, es ist ein von Menschen erfundenes Schubladensystem. Den Individuen, Gruppen, Populationen und Arten ist es völlig egal, dass wir sie so nennen – sie vermehren sich, mit wem sie sich vermehren können oder wollen und ihre Nachkommen überleben mal mehr und mal weniger erfolgreich. Lebewesen existieren im Fluss der Zeit, sie entstehen, sie existieren und sie verschwinden wieder. Andere übernehmen neue Lebensräume, weil sie sich anpassen konnten, oder geben sich verändernde Lebensräume frei, weil sie sich nicht anpassen konnten. Ob Lebewesen mit der Zeit mithalten können, hängt von ihrer genetischen Ausstattung ab. Und das betrifft nicht nur Kakerlaken. Eines der eindrücklichsten Beispiele sind die Afrikanischen Elefanten. In den letzten ca. vierzig Jahren ist der Anteil der weiblichen Tiere, die ohne die Anlage für Stoßzähne geboren werden und deswegen nie welche ausbilden, von ca. 2-3 % auf etwa 30 % gestiegen. Es gibt Populationen, wo 98 % der Elefantenkühe keine Stoßzähne mehr haben. Warum? Weil der Mensch all jene Tiere getötet hat, die das wertvolle Elfenbein in Form von Stoßzähnen ausbildeten. (1)
Ich schreibe das hier, weil mir zwei Aspekte daran wichtig sind. Erstens, in der Systematik werden Referenztiere verwendet, um andere Tiere damit zu bestimmen. Ob sie zu einer anderen Zeit lebten, in einem anderen Habitat oder in der Zukunft: Die Referenz ist da, zumindest in Form des Holotypus. Sie legt fest, wie ein Tier dieser Art aussehen soll. Der Holotypus und die Paratypen können aber auch als Referenz dafür herhalten, wenn sich eine Art verändert.
Warum erkläre ich das hier? Weil nichts dagegenspricht, dieses System auch auf Hunderassen anzuwenden. Natürlich würde man nicht das perfekte Tier einer Rasse in Sprit einlegen – es gibt für viele Hunderassen ausreichend Fotografien, denn so alt ist die Rassezucht noch nicht, dass man nicht die ersten Vertreter der Rasse mit einem Lichtbild dokumentiert hätte. Genauso wäre es mit den Paratypen. Man könnte Kataloge von Fotografien einzelner Individuen einer Rasse aus dem frühestmöglichen Zeitraum zusammenstellen, also bspw. zwischen 1860 und 1900. Glücklicherweise war das genau die Zeit, in der auch die Fotografie boomte.
An Daten zu Maßen und Gewichten zu kommen, sollte unproblematisch sein. Schwieriger wird es, wenn es darum geht, ein neues Verständnis für das Wesen verschiedener Hunderassen zu entwickeln. Entweder wir einigen uns darauf, dass wir bestimmte Rassen in Deutschland nur sehr begrenzt halten können und sie deswegen hier auch nicht gezüchtet werden müssen – oder wir einigen uns darauf, unterschiedliche Populationen zu kreieren, die in ihrem Habitat, also überspitzt gesagt auf der Couch des Menschen, gut und unauffällig zurechtkommen. Man könnte es Show- und Arbeitslinie nennen, oder wir nennen es Familien- und Gebrauchslinie. Wir können es auch Gertrud und Dietmar nennen, denn der Kern der Sache ist: Auch Hundrassen müssen nicht überall exakt gleich sein, weder in ihrem Aussehen noch in ihrem Wesen und in unserer Gesellschaft gibt es Eigenschaften an Hunderassen, die hier nicht sinnvoll sind.
Was aber zentral ist im Verständnis um das Wesen einzelner Rassen ist nicht nur die dem Menschen ach so schwere Akzeptanz von Diversität, sondern der Fokus (sic!) auf etwas, das wir nicht einfach betrachten können, nämlich das Verhalten der Hunde. Aggressivität ist ein Merkmal, das zu Teilen vererbbar ist (s. „Die Persönlichkeit des Hundes, M. Nitzschner), gehemmtes Aggressionsverhalten ebenfalls (weswegen Beagles so beliebte Labortiere sind), die Ausprägungen in der Verhaltenskette des Jagens und der Umgang mit fremden Artgenossen und fremden Personen. Natürlich kann man da mit Erziehung etwas machen, aber es gäbe außerdem die Alternative, sich eine Hunderasse auszusuchen, die nicht erst in die Lebensumstände geklöppelt werden muss.
Die Aufgabe eines Rasseverbandes sollte es sein, zu katalogisieren, was war und zu dokumentieren, was ist und auf Abweichungen hinzuweisen. Die Aufgabe sollte sein, transparent über Problematiken zu informieren, für eine maximal große Barrierefreiheit beim Zugang zu Gesundheitsinformationen und Informationen für die Zucht von Hunden zu sorgen – für alle Personen, die sich damit beschäftigen. Der Rasseverband sollte die neuste Forschung aufarbeiten und allen interessierten Personen zugänglich machen. Ein Rasseverband sollte sich mit der Erforschung aller Hunderassen befassen, deren Historie dokumentieren und die Informationen dazu der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Von mir aus hinter einer Paywall.
Und wenn wir schon dabei sind, dann bedeutet VDH eigentlich Verband für das Deutsche Hundewesen. Der Ausschluss all jener Hunde, die rasselos sind oder von der FCI als einzig auserwählte Organisation (als gäbe es keine anderen) nicht anerkannt werden und von allen Mischlingen zwischen Rassen, ist schlicht und ergreifend dumm. Unter diesen Hunden findet man nicht nur gute Hunde – man findet dort ganz hervorragende Hunde, deren genetisches Material auf Basis mehr oder weniger bewusster rassistischer Phantasien als minderwertig angesehen wird. Deswegen staunen bis heute Menschen, wenn der Rassehund kastriert wurde, aber der rumänische Tierschutzhund es nicht ist. Derlei rassistische Phantasien haben sich an allen möglichen Stellen eingeschlichen. Eine Zuchthündin, die je von einem „rassefremden“ Rüden gedeckt wurde, kann nicht für die Zucht verwendet werden, weil… irgendwas mit verunreinigtem Erbgut.
Mein letzter Stand ist, dass man in der Schweiz im Rahmen des organisierten Hundesports nur einmal in seinem Leben mit einem Mischling teilnehmen durfte – vielleicht eine Handreichung in Sachen Inklusivität? Scherz. Es ist völliger Quatsch und es zielt darauf ab, zu vermeiden, dass irgendwer erkennen könnte, dass auch Mischlinge leistungsstarke, gehorsame und alles andere als minderwertige Hunde sind. Wer sich diese Idee einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lässt, muss eigentlich unkontrolliert anfangen zu schreien. Ich habe hier und jetzt allerdings nicht überprüft, ob das immer noch so ist. Aber es ist auch nicht so, als wäre 2012 das Mittelalter gewesen, übrigens…
Was wir benötigen, ist eine Organisation, die es sich zur Aufgabe macht, das Wissen um Hunde, die Kynologie, das verflixte Hundewesen allen zur Verfügung zu stellen, die Aus- und Fortbildungen für alle anbietet, die einen aufgeklärten und aufklärenden Ansatz verfolgt, wenn es um unseren vierbeinigen Freund geht, den wir uns vor so vielen tausend Jahren selbst kreiert haben. Da draußen warten so viele grandiose Geschichten über (rasselose) Hunde, über spannende Gebrauchsschläge aus fernen Ländern mit ganz wundervollen Eigenschaften, die für ihre Habitate und ihren Gebrauch optimal sind, da warten unzählige wissenschaftliche Erkenntnisse und da warten Millionen von Menschen, besser informiert zu werden.
Was wir nicht brauchen, ist ein Qualitätssiegel. Wir brauchen eine fundierte Richtlinie für die Zucht von Hunden, in der es um deren Wesen, deren Gesundheit, Best Practice Grundsätze für die ersten Phasen der Ontogenese des Hundes – also von seiner Entstehung bis zur Abgabe an die neuen Halter*innen – und ein durchdachtes Informationssystem für Interessierte, damit sie selbst (!) aufgrund sinnvoller Anhaltspunkte entscheiden können, ob eine Zuchtstätte gute Hunde hervorbringt. Dafür braucht es keine Stammbaum-Urkunden und VDH-Siegelchen.
Und wenn der VDH das nicht hinbekommt, dann muss irgendwo irgendwann jemand das GCN, das Global Canid Network, gründen und mit der Arbeit von vorne beginnen. Das wird ein super Projekt, vermute ich. Bis dahin verlasse ich mich auf mein Wissen, das ich mir recht mühevoll zusammengetragen habe – was mir nie gelungen wäre, wenn ich nicht einige ganz wundervolle, erfahrene Menschen kennen würde, die mich dabei unterstützt haben. Ein Luxus, den sicher nicht jede*r zur Verfügung hat, die oder der sich für das Thema Hundezucht interessiert.
So, damit habe ich seit langer Zeit einmal wieder Dinge zu Word gebracht, die mich ganz privat umtreiben. Es sind nur Gedanken, teils nicht vollständig entwirrt, und der Text spiegelt meine momentane Meinung wider, von der ich nicht sagen kann, dass ich sie nicht permanent revidiere. Ich bin gespannt, ob ihr dazu eigene Gedanken habt, denn ich bin mir sicher, dass es Menschen gibt, die viel, viel mehr Erfahrung mit dem ganzen Themenkomplex haben.
Teil 1 meines Textes „Gedanken zur Zucht von Hunden“ ist hier zu finden: https://www.facebook.com/Dr.NoraBrede/posts/pfbid02d3pzkWo1tmc2BLTKZjV64z3nCMLdcx7o3rEBChDs5uNBkRJxoWVCVoffDDTb4YBUl
Quellen:
(1) https://www.nationalgeographic.de/tiere/2018/11/evolution-mehr-elefanten-ohne-stosszaehne-durch-wilderei (abgerufen 21.8.2022) und https://www.science.org/doi/10.1126/science.abe7389 (englisch, abgerufen 24.8.22)
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Typus_(Nomenklatur) (abgerufen 21.8.2022) und https://code.iczn.org/the-type-concept-in-nomenclature/article-61-principle-of-typification/?frame=1 (englisch, 24.8.22)
(3) https://www.tierarzt-rueckert.de/blog/details.php?Kunde=1489&Modul=3&ID=21400 (abgerufen 21.8.2022)