21/01/2024
Artgerecht oder bedürfnisorientiert ?
Heute möchte ich meine Gedanken zum Begriff ´artgerecht´, welcher in meiner Erfahrungswelt in den letzten Jahren schon fast inflationär verwendet wird, mit Euch teilen. In meiner beratenden Tätigkeit erlebe ich immer wieder, dass viele Tierhalter, aber auch Fachleute teilweise sehr interessante Vorstellungen von artegerechter Haltung, Fütterung etc. haben und manche Ideen sich schon fast ins Extreme bis Fanatische entwickeln.
Je länger ich mit Tieren zu tun habe, desto unpassender finde ich persönlich den Begriff ´artgerecht´. Das hat primär den Grund, dass keine noch so gute Tierhaltung in Gefangenschaft das Leben eines Tieres in seinem natürlichen Habitat 1:1 simulieren kann. Wir können den Tieren in Gefangenschaft schlichtweg nicht das bzw. alles bieten, was sie in der Wildnis haben.
Diese Erkenntnis sollte jeden, der mit Tieren zu tun hat, in erster Linie demütig und achtsam dieser Tatsache, sowie der Aufgabe einer bewussten Tierhaltung gegenüber werden lassen.
Eine Frage, welche sich mir jedoch auch stellt ist: “Müssen wir das überhaupt, ein Tier 'artgerecht' halten“ oder geht es bei einer, angemessenen Haltung nicht auch oder vorallem um eine, auf die Bedürfnisse des jeweiligen Tieres abgestimmte Substitution nicht 1:1 umsetzbarer Faktoren? Ein Tier, welches in einer, ihm gerecht werdenden Gefangenschaft lebt, hat zwar nicht alles, was es in seinem ursprünglichen Lebensraum hat, jedoch werden diese Einschränkungen durch andere Dinge ausgeglichen z.B. eine gewisse Grundsicherheit und eine konstante Nahrungsversorgung (aus Nervensystemsicht fände ich es sehr interessant, heraus zu finden, was sich, auch auf Verhaltensebene bei Tieren verändert, welche dem Stress, täglich um ihr Überleben bangen bzw. kämpfen zu müssen, bei einer angemessenen anderweitigen Beschäftigung, nicht mehr ausgesetzt sind und das tierreichübergreifend…-> Maslowsche Bedürfnishierarchie, welche ja vorwiegend auf die menschlichen Bedürfnisse bezogen wird).
Ein weiterer Grund, weshalb ich den Begriff ´artgerecht´ eher etwas kritischer betrachte ist in meinen Augen, dass die Individualität des jeweiligen Lebewesens zu sehr in den Hintergrund gerät (wobei mir bewusst ist, dass 'artgerecht' das Individuelle nicht ausschliesst). Wer sich schon einmal auf eine tiefe Verbindung zu einem/ mehreren Tieren eigelassen hat, wird wahrscheinlich schon festgestellt haben, dass jedes Tier eben auch ein Individuum ist und man nicht alle Tiere derselben Art/ Rasse etc. über einen Kamm scheren kann, es also eine grosse Vielfalt und Spannbreite an “Charakteren“ gibt und auch der individuelle Erfahrungsschatz eines jeden einzelnen Tieres, je nach Herkunft, Prägung und bisheriger Haltung teilweise extrem unterschiedlich ist.
Mir sagt deshalb der Begriff ´bedürfnisorientiert´ statt ´artgerecht´ mehr zu, denn dieser berücksichtigt sowohl die übergeordneten (Grund-)Bedürfnisse, welche eine Tierart mitbringt, inkludiert jedoch auch die Bedürfnisse des jeweiligen Individuums und die Möglichkeiten, welche uns als Menschen/ Tierhaltern für eine adäquate Haltung zur Verfügung stehen.
Zweifellos ist es sehr wichtig und notwendig, zu wissen, wie ein Tier im natürlichen Habitat lebt oder welche Grundbedürfnisse es hat und wie sein Verhaltensrepertoire aussieht, um davon dann ableiten zu können, wie man den Lebensraum in Gefangenschaft gestalten und fehlende Komponenten angemessen substituieren bzw. ausgleichen kann. Das passiert in der (heutigen) Tierhaltung/ Aquaristik ständig, jedoch sind manche Dinge leider weniger den Bedürfnissen des Tieres, sondern mehr denjenigen des Halters untergeordnet.
Hier schliesst sich nun also auch der Kreis zu meinem letzten gedanklichen Exkurs, zum Thema Fütterung unserer Tiere.
Es gibt also meines Erachtens nicht nur den einen richtigen Weg ein Tier angemessen ('gut') zu halten, sondern ein Spektrum der Haltungsmöglichkeiten, welches dann auf die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Tier-Tierhaltersystems abgestimmt werden sollte - eben eine bedürfnisorientierte Tierhaltung.