16/11/2024
Erzwungene Freundschaft - oder wieso bereits Marx wusste "Wenn der Zweck die Mittel heiligt, ist der Zweck unheilig"
Es ist nur ein verwackeltes Foto. Kein spektakuläres Video von unzähligen Maulkorbträgern, unterlegt mit epischen Kriegshymnen. Es ist nur ein verwackeltes Foto. Keine selbstbeweihräuchernden Reden darüber wie schnell Erfolge erzielt werden, flankiert von eindrucksvollen Vorher/Nachher Vergleichen. Nein, ich kann nur mit einem Foto aufwarten.
Es ist dunkel und still geworden, eine spannende Woche mit meinen Trainingsgruppen ging gestern zu Ende. Ich bin sentimental, denn diese ganze Woche war irgendwie geprägt von durchschlagenden Erfolgen und der Wahrnehmung das viele (ja, von solchen Hundetrainern vermutlich als Kleinigkeiten wahrgenommene) Dinge funktioniert haben, die vor kurzem noch undenkbar waren. Ich bin überwältigt von der Liebe die mich umgibt, Liebe zwischen Mensch und Hund, eine Liebe die dazu führt das diese Menschen bereit sind alles dafür zu tun das es ihrem Hund besser geht. Auf faire, artgerechte Weise, auch wenn es lange dauert, auch wenn man aus der Masse herausstechen muss weil man es eben anders macht, auch wenn es manchmal weh tut. Ja, Liebe tut weh.
Sozialkontakt unter Hunden war wohl schon immer ein umstrittenes Thema, aber nie so sehr wie heute. Die Hundehalterszene hat sich in zwei Lager gespaltet könnte man meinen: Diejenigen für die Sozialkontakt (und vor allem die uneingeschränkte Freiheit des eigenen Hundes!) über allem steht und diejenigen die Hundekontakte kategorisch ablehnen. Naja, vielleicht gibt es noch ein paar kleine Inseln dazwischen, nämlich die die finden das echte Freundschaften wichtig sind. Aber wenn uns eingeredet wird das der Hund sozial sein muss und das sozial-sein bedeutet jedes andere Lebewesen zu mögen, aufgezwungene Kontakte annehmen zu können und sich "anständig" zu verhalten, wohin mit all den Hunden die ihrer Art entsprechend nicht so funktionieren? Ganz einfach: Man stecke sie in "Resozialisierungsprogramme" in denen die besagten Hunde einer unbestimmten Anzahl an wahllosen Soialkontakten ausgesetzt werden. Gefährlich? Nein, sie tragen Maulkörbe, es kann nichts passieren. Zumindest physisch, die Psyche interessiert dabei nicht, denn es geht nicht darum ob der Hund ein Problem hat, sondern ob er eins macht. Diese Settings sind unglaublich lehrreich für den Hund und die gesammelten Lernerfahrungen sind wegweisend für sein weiteres Leben. Denn er darf lernen das Vergewaltigungen vollkommen in Ordnung sind. Er darf lernen das die Bezugsperson, sein Elternteil wenn man so will, ihn einem Massenmissbrauch zur Verfügung stellen darf. Und er darf lernen das die eigenen Gefühle nicht wichtig sind, so lange er brav tut was von ihm erwartet wird. Schön, oder? Ich habe lange genug in der Psychiatrie gearbeitet um zu wissen was aus traumatisierten Kindern wird. Manche werden nicht alt, andere werden zu absoluten Soziopathen. Verrückte Welt, in der systematische Traumatisierung salonfähig geworden ist! Dabei müsste der ERSTE SCHRITT in diesen Settings bereits stutzig machen: Wieso braucht es Maulkörbe, wenn diese Form der Sozialisierung natürlich ist? Ganz einfach: Weil sie das nicht ist. Sozial ist man innerhalb seines Sozialverbandes, nicht gegenüber Wildfremden. Für Hunde sind andere Hunde Konkurrenten auf allen Ebenen. Erstaunlicherweise funktionieren Hunde nicht anders als wir Menschen: Auch wir sind als Kinder offen für die Welt, spielen ungezwungen mit fremden Kindern. Nach und nach wird unsere Welt enger, kleiner, man hat ausgewählte Freundschaften. Fremden gegenüber werden wir skeptisch, verschlossener, vorsichtig. Beziehungen sind zarte Pflanzen die mit viel Pflege und Umsicht wachsen dürfen. Wer hat sich schon mal in seiner eigenen Meinung etwas zurück genommen weil er nicht wusste was das Gegenüber über das entsprechende Thema denkt? Oder anders gefragt: Wer lässt die Tür zum Badezimmer beim ersten Date offen wenn er ka**en geht? Vielleicht die entsprechenden Hundetrainer die das anbieten, denn erstaunlicherweise erlebe ich diese im Umgang mit ihren Mitmenschen oft als ziemlich asozial.
Tja. Für Hunde scheint das nicht zu gelten. Hunde sollen gefälligst bereits beim ersten Treffen die Hosen runter lassen, denn wir wollen schnell vorwärts kommen. Was wäre das für ein Hundetrainer der mehr als ein paar Stunden in ein Thema investieren muss? Und was sagt es über den Hundehalter aus der monate-, vielleicht jahrelang, an einem Thema arbeitet? Nichts Gutes. Aber wieso haben solche Angebote so einen Erfolg? Weil sie wirken. Ist der Hund erst mal erfolgreich traumatisiert, wird er sich nicht mehr wehren. Er hat erfolgreich gelernt diesen Missbrauch über sich ergehen zu lassen, so wie Kinder irgendwann nicht mehr schreien wenn sie von einem Elternteil verprügelt werden. Man lernt alles auszuhalten. Man lernt stark zu sein. Man lernt diese Situationen irgendwie "auszuklammern" aus dem normalen Leben, wie ein kurzer Hagelschauer im Sommer, der sich deplatziert anfühlt und nicht ins Gesamtbild passt. Aber..? Man hat vielleicht das Verhalten modifiziert. Vielleicht hat man den Hund so gedeckelt das er sich nie wieder zur Wehr setzt. Aber man hat mit Sicherheit nicht an seinen Gefühlen gearbeitet. Man hat ihm nicht beigebracht das andere Hunde nicht gefährlich sind, keine Konkurrenz darstellen oder das er Fähigkeiten im Umgang mit anderen Hunden haben darf und dazu zählen auch adäquate Konfliktstrategien. Im besten Fall - für den Menschen - hat man den Hund so stark traumatisiert das er zu den Kindern zählt die eben nicht alt werden, auch wenn sie keinen Suizid begehen können. Im weniger guten Fall entwickelt sich das Trauma zur ausgewachsenen Soziopathie. Ich nehme aber an das diese Fälle dann nicht in einer Erfolgsstatistik der betreffenenden "Resozialisierungshundeschule" auftauchen, nein, dann sind vermutlich die Besitzer schuld weil sie das Trauma nicht strategisch genug durchgeführt haben.
Man sieht, das Thema nimmt mich mit. Persönlich wie auch beruflich. Ich und Traumata sind enge Freunde geworden über die Jahre und hier kommt nur der Gamechanger: Es gibt noch ein alternatives Ende. Wer das eigene Trauma erkennt und daran arbeitet, kann vielleicht nicht alle Folgeschäden beheben, aber er kann sich dieser bewusst werden und Strategien erlernen um mit ihnen umzugehen.
Es ist nur ein verwackeltes Foto. Ein Foto zweier wundervoller Mensch-Hund-Teams die sich gegen strategische Traumatisierung entschieden haben und ihren beiden Hündinnen einen sanften Weg anbieten Freunde zu werden. Ein Weg, der auf Freiwilligkeit, Aufarbeitung von Emotionen, Erlernen von anderen Strategien, Erfahren von Empathie und ganz viel Vorbildverhalten durch die Bezugspersonen basiert. Ein Weg der lange ist, der emotional ist, der manchmal laut und ungemütlich ist. Aber auch ein Weg ohne Zwang, ohne Gewalt und ohne das Gesicht zu verlieren. Denn so können Freundschaften entstehen. Nur so. Deshalb darf Marx noch ein zweites Mal auftreten: "Die Menschen schreiben ihre eigene Geschichte nicht auf die Art und Weise, wie sie ihnen gefällt, sondern durch Umstände die sie nicht selber gewählt haben". Lasst uns gute Umstände schaffen für unsere Hunde, damit sie eine schöne Geschichte schreiben dürfen!
Es grüsst,
R. und die Crew