29/05/2023
REG DICH AB!
Das ist der wohl hirnrissigste Hinweis an jemanden, der sich gerade aufregt.
Reg dich ab.
Aha! Ok, ja Danke, schau, jetzt bin ich Dank Deiner Hilfe komplett entspannt! Ich danke Dir!
Mich regt das richtig dolle auf, weil es nicht nur überhaupt kein Fitzelchen hilfreich ist, sondern auch noch total überheblich daherkommt.
Die Frage ist doch: Wie schaffen wir es, uns wirklich wieder abzuregen? Was hilft uns, mit Ärger, Wut, Frust besser umzugehen? Und uns beim nächsten Mal weniger schnell aufzuregen?
Eine Situation, die mich richtig hart aufregt, nicht erst seit Corona, sind Menschen, die mir ohne Not auf die Pelle rücken. So Supermarktkassen-in-den-Nacken-Atmer. Oder Menschen, die sich im leeren U-Bahn-Waggon direkt neben mich stellen, am besten mit Körperkontakt.
Oder auf der Liegewiese ihr Handtuch quasi halb auf meines legen.
Wie man damit nun umgeht, ist natürlich eine andere Frage. Ich wähle immer den geordneten Rückzug, setze mich also um oder ziehe auf einen anderen Teil der Liegewiese. Ich mag nicht aggressiv sein, ich schreie im Auto schon genug rum.
An der Supermarktkasse ist das aber nicht möglich, da steht der Nackenatmer hinter mir, und wenn ich einen Schritt nach vorne gehe, kommt der Nackenatmer mit, weil Nackenatmer sind sehr anhänglich und verstehen sich nicht gut darauf, subtile Hinweise zu lesen.
Unsere Hunde machen solche Nackenatmer- Erfahrungen ständig, weil sie an der Leine wenig Möglichkeiten haben, ihre Individualdistanzen zu bewahren. Oder überhaupt dem nachzugehen, was sie gern tun würden. Es gibt ja auch genügend kontaktfreudige Hunde, die gern viel öfter mal Hallo sagen möchten, aber permanent daran gehindert werden. Ich stelle mir das ziemlich furchtbar vor.
Was viele Menschen nun erwarten: Lockere Leine, ruhiges Vorbeigehen an Artgenossen, bitte nicht bellen, kein Generve, auf einer Seite laufen, ned schnüffeln, nicht stehenbleiben, nix anschauen. Wenn der Hund sich aufregt, soll er sich bitte wieder abregen und zwar flotto.
Ich stelle immer und immer wieder fest, dass Aufregung und fehlende Regulierungsmöglichkeiten seitens der Hunde ursächlich sind für eine Vielzahl an Verhaltensproblemen. Leine zerren, übermäßiges Bellen, Unruhe, Leine beißen, Artgenossen angehen, bis hin zu selbstgefährdendem oder selbstverletzendem Verhalten. Ein (zu) hohes Erregungslevel ist problematisch, es kann einen Hund auf Dauer krank machen. Und einen selbst auch, weil man sich hilflos fühlt, wenn man einen Hund an der Seite hat, der permanent „drüber“ ist. Nicht ansprechbar, nicht trainierbar.
Und genau da liegt das Problem. Reg dich ab: funktioniert nicht. Bevor man irgendetwas trainiert, muss das Erregungslevel gesenkt werden. Da hilft kein Leinenruck, kein anschreien, kein randalieren. Zunächst einmal muss man herausfinden, welche Ursache dem Ganzen zugrunde liegt. Gesundheit, Tagesablauf, Futter, Bedürfnisse, Erwartungen - alles gehört auf den Prüfstand. Um dann zu schauen, was dem Hund helfen kann, wieder gelassener zu werden.
Alltag entstressen, Entspannungstraining, Massagetechniken, Umweltmanagement - es gibt viele Wege zu mehr Gelassenheit, bis hin zu Thundershirt oder Nahrungsergänzungsmitteln. Und dauerhaft möchte ich natürlich Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Damit der Hund eines Tages selbstständig in der Lage ist, sich wieder abzuregen oder sich gar nicht erst aufzuregen. Auch wenn ein Nackenatmer auftaucht.