26/03/2024
Sehr gut erklärt, liebe Frauke Musial! Und deshalb ist es so wichtig, sich ständig weiter zu bilden, damit unser Umgang mit Pferden immer pferdefreundlicher wird. 🩵
Science to Go: Von Pferden und Menschen, Wissenschaft, und Anthropomorphismus.
Liebe Pferdefreunde, dies ist ein recht ungewöhnlicher (und laaaanger) Post für mich, die normalerweise eher auf der "harmoniesüchtigen" Seite zu finden ist. Aber in letzter Zeit fühle ich mich ganz schön von einigem „wissenschaftlichen“ Unsinn provoziert, der durch die sozialen Medien geistert. Es ist wohl an der Zeit, einmal eine grundsätzliche Diskussion über Wissenschaftlichkeit zu führen, besonders im Interesse unserer vierbeinigen Freunde. Aber beginnen wir von vorne: Der sog. präfrontale Kortex ist eine Struktur im Säugergehirn, von der man annimmt, dass sie für die Verhaltenskontrolle und das Problemlösen von grundlegender Bedeutung ist. Diese Struktur wurde bisher bei allen, daraufhin untersuchten Säugern nachgewiesen. Allerdings hielt sich das Gerücht hartnäckig, dass Pferden diese Struktur fehle. Eine Annahme, die nicht auf wissenschaftlichen Tatsachen/Ergebnissen basierte, sondern lediglich auf einer falschen Interpretation des Fluchtverhaltens von Pferden. Nachdem nun die meisten offensichtlich akzeptiert haben, dass das Pferdegehirn, wie alle Säugetiergehirne, ganz sicher einen präfrontalen Kortex hat, kursiert nun ein neuer Mythos in den sozialen Medien, nämlich der, dass Pferde im Vergleich zum Menschen einen „unterentwickelten präfrontalen Kortex" haben. Was ist daran falsch? Das Wort „unterentwickelt“, welches eine Wertung beinhaltet. Damit ist diese Aussage auch kein Fortschritt gegenüber der Behauptung, dass Pferde überhaupt keinen präfrontalen Kortex hätten, sondern ebenfalls lediglich Ausdruck eines offensichtlich tief verwurzelten Anthropomorphismus.
Dabei zeigen Pferde in Studien absolut betrachtet hochentwickeltes Verhalten, das, nach allem, was wir über die Funktionsweise des Präfrontalen Kortex wissen, ohne eine solche Struktur im Gehirn nicht ausgeführt werden könnte (Brucks, Härterich, König von Borstel, 2022). Dieses Verhalten oder diese Aufgabe nennt man „aufgeschobene oder verzögerte Belohung“ (z. B. Latzman & Taglialatela, Hopkins, 2015). Aufgeschobene oder verzögerte Belohnung beinhaltet die Fähigkeit, einen unmittelbaren Gewinn zugunsten einer späteren, noch größeren Belohnung aufzuschieben, ein Typ Experiment, dass Aussagen zur Impulskontrolle erlaubt. MENSCHLICHE KINDER SIND NICHT VOR ERREICHEN DES VORSCHULALTERS IN DER LAGE, DIESE AUFGABE KONSEQUENT ZU LÖSEN (!). Die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub gilt als Zeichen hoher Intelligenz und als grundlegend für die Fähigkeit zur Entscheidungsfindung und Planung. Und seien wir ehrlich, wenn Pferde diese Fähigkeit nicht hätten, wäre Pferdetraining nahezu unmöglich. Am ersten grünen Gras im Frühling kämen wir nie vorbei, um nur ein Beispiel zu nennen.
Während die Leugnung der Existenz eines präfrontalen Kortex beim Pferd einen erheblichen Mangel an Wissen über Evolution, Phylogenese und das Säugetiergehirn offenbart, entlarvt die Vorstellung, dass der präfrontale Kortex des Pferdes "unterentwickelt" sei, eine zutiefst anthropomorphe Einstellung. Diese ist das Gegenteil von dem, was die Biowissenschaften und die Verhaltensforschung bezwecken: ein unvoreingenommenes Wissen über unsere vierbeinigen Freunde zu vermitteln. Wäre der Anthropomorphismus nicht eine der wesentlichen Ursachen der allermeisten Missverständnisse zwischen Pferden und Menschen und einer der Hauptgründe für unethisches Training, wäre diese Art von Anthropomorphismus, die eine andere Spezies aus einer naiven menschlichen Perspektive beurteilt, vielleicht sogar amüsant. Leider ist daran allerdings nichts lustig!
Der "Maßstab", an dem die Struktur und Funktion der "Konstruktion" einer Spezies gemessen werden können und müssen, ist ihr Lebensumfeld, ihr „Habitat“ und die Bewältigung der Anforderungen, die mit der Lebensweise der jeweiligen Spezies in ihrem Habitat verbunden sind. Giraffen haben einen langen Hals, weil sie sich von Bäumen ernähren und die Repräsentation des Halses in ihrem Gehirn wird die enorme Dimension ihres Halses widerspiegeln. Das Nilpferd hat dagegen einen eher plumpen Körper ohne Hals, weil es sich so besser „schwimmt“ (eigentlich hat das Nilpferd nur einen besseren Auftrieb im Wasser). Das ist seine Lebensweise und der lange Hals einer Giraffe wäre für ein Nilpferd nur dann nützlich, wenn es einen Schnorchel benötigen würde. Der Maulwurf hat fast keine Augen, weil sie für seine Lebensweise nicht notwendig sind und der visuelle Kortex des Maulwurfgehirns spiegelt dies wider. Das Pferd als Fluchttier hat die größten Augen aller Landtiere mit einem Rundumblick von fast 380 Grad, weil es ein Raubtier so früh wie möglich erkennen und dann sofort fliehen muss. Das Säugetiergehirn - prinzipiell so genormt wie der Säugetierkörper im Allgemeinen - ist ebenso variabel und anpassungsfähig wie die Körper der Säuger. Es passt sich den Bedürfnissen der infrage stehenden Art entsprechend der Lebensweise an. Anatomie und Neuroanatomie folgen der Funktion und den Anforderungen der Lebensumwelt einer Spezies, und das ist es, was die Säugetiere in der Evolution so erfolgreich gemacht hat, dass sie fast jede denkbare ökologische Nische besetzt haben.
Der einzige geeignete Maßstab, um die Fähigkeiten einer Spezies zu messen, sind also die Herausforderungen ihres Lebensraums. Es ist auch der einzig legitime Maßstab, der unser VERSTÄNDNIS fördert, ohne zu (ver-)urteilen. Was den präfrontalen Kortex anbelangt, so bildet der menschliche Primat (oder Primaten im Allgemeinen) mit seinem überdimensionierten präfrontalen Kortex, der es ihm ermöglicht, Angst und Furcht zu kontrollieren, eine extreme Ausnahme im Tierreich. Aufgrund der evolutionären Entwicklung zum sozialen Jäger sind Primaten sogar in der Lage, gegeneinander Krieg zu führen, eine seltene Aberration im Tierreich. Hätte das Pferd einen menschenähnlichen hypertrophen präfrontalen Kortex, der seine Kampf-Flucht-Reaktion hemmen könnte, hätte der Mensch wohl niemals die Möglichkeit gehabt, Anthropomorphismus gegenüber Pferden zu praktizieren: Die Pferde wären längst ausgestorben, und kein Mensch wäre jemals einem Pferd begegnet. Mit anderen Worten, sowohl der Säugetierkörper als auch das Säugetiergehirn entwickeln sich entsprechend den Anforderungen des Lebensraumes. ALLE Lebewesen dieses Planeten besitzen die perfekten Gehirne als Antwort an die Herausforderungen ihres Lebensraums. Sonst gäbe es sie nicht mehr….
Wenn die Wissenschaft uns helfen soll, bessere Pferdemenschen zu werden, dann ist die erste Anforderung an uns Menschen bei der Interpretation von Studienergebnissen, vom Anthropomorphismus Abstand zu nehmen und eine Haltung zu vermeiden, die den menschlichen Primaten über alle anderen Lebewesen stellt und in der Konsequenz alle anderen Arten an uns eigentlich ganz schön unvollkommenen Menschen misst. Aus der Sicht der meisten anderen Säugetiere dieser Welt sind z.B. unsere menschlichen Sinne so unterentwickelt, dass sie beinahe dysfunktional sind (man denke nur an den beinahe nicht vorhandenen Riechsinn der Menschen). Die anderen Tiere würden sich wahrscheinlich fragen, wie wir Hominiden mit solch fundamentalen Mängeln überhaupt überleben können. Seien wir ehrlich, so unterentwickelt wie wir zerbrechlichen, nackten Menschen sensorisch sind, blieb uns gar nichts anderes als gut zu planen und dafür einen riesigen präfrontalen Kortex zu entwickeln, sonst wären wir schon längst verschwunden 😉
Die anthropomorphe Perspektive beinhaltet die Erwartung, dass Pferde sich wie „kleine“ Hominiden verhalten und verurteilt sie dann konsequent in ihrem Versagen und ihrer Unzulänglichkeit, sich „menschlich“ verhalten zu können. Es wäre viel gewonnen, wenn wir uns fragen würden, wie das Verhalten unserer vierbeinigen Gefährten ihnen in ihrer Welt helfen würde, die Herausforderungen ihrer Lebensumwelt zu bewältigen. Dieser Wechsel der Perspektive kann eine erste kleine Übung auf unserem Weg sein, unsere vierbeinigen Gefährten besser zu verstehen. Mein Herz sagt mir, dass diejenigen, die diesen Blog verfolgen, mit mir auf diesem Weg sind