30/10/2024
Wenn Hundetrainer unwissenschaftliche Methoden anwenden, können sie Leben zerstören 😪
Baldur
Langsam und optisch ohne jede Eleganz stapfte Baldur in Richtung des Sofas, nachdem er seinen Napf mit dem Abendessen geleert und ausgiebig ausgeleckt hatte. Wie jeden Tag um diese Zeit saß Herrchen schon auf dem Sofa und wartete, bis sich Baldur zu ihm gesellte. Der Weg vom Futternapf schien für Baldur eine Herausforderung zu sein. Schwer atmend kam er schließlich dort an und stellte sich vor das Sofa. Dort gab er einen wuffenden Laut von sich. Herrchen reagierte sofort. Er stand auf, griff unter den Bauch von Baldur und hob dessen Vorderkörper mit den Vorderbeinen auf das Sofa. Im zweiten Schritt nahm er dann das Hinterteil des Hundes und hob es ebenfalls herauf, bis der schwere und schwerfällige Hund komplett auf der Sitzfläche war. Baldur legte sich direkt hin und atmete immer noch schwer. Baldur hatte es mehrfach ausprobiert, Herrchen durch das Wuffen dazu aufzufordern, ihm irgendwie Hilfestellung beim Besteigen des Sofas zu geben. Und nachdem Herrchen es gelernt und richtig umgesetzt hatte, belohnte ihn Baldur immer mit einem heftigen Schlecker durchs Gesicht. Das war Herrchen zwar nicht wirklich angenehm, aber diese freundliche Geste wirkte doch irgendwie verstärkend auf das Verhalten des Menschen, sodass dieser es wiederholte, wenn der Hund das passende, wuffende Signal gab. Baldur hatte sein Herrchen gut trainiert, ihn auf das Sofa zu heben.
Baldur war eine englische Bulldogge. Er sah sehr muskulös aus, fühlte sich aber selten richtig wohl in seinem Körper. Oft schmerzten ihn seine Gelenke, und wenn er sich nur leicht anstrengte, hatte er Schwierigkeiten, frei zu atmen. Er war kein glücklicher Hund. Er lebte vor sich hin, akzeptierte und ertrug seine Schmerzen und seine Atemprobleme. Das Schönste für ihn waren nicht die Gassigänge des Tages, wie sie es für andere Hunde sind. Er sah es als notwendig an, ab und an draußen herumzustapfen und seine Geschäfte zu erledigen. Aber, wie schon gesagt, war selbst der kleinste Gang sehr anstrengend für ihn, sodass es ihm daheim einfach besser gefiel und seine Bewegungen im Laufe des Tages überschaubar blieben.
Die schönste Zeit des Tages war für ihn, wenn er abends neben Herrchen auf dem Sofa lag und es ihn lange und ausgiebig über den ganzen Körper streichelte. In langen, langsamen Zügen vom Kopf bis zum Hinterteil. Er spürte immer ein wohliges Gefühl, eine Entspannung aus seinem Inneren, die ihn wie eine warme Decke einhüllte und ihn zu dieser Tageszeit seine Gelenkschmerzen und Atemprobleme fast vollständig vergessen ließ.
An diesem Abend war wieder diese schönste Zeit des Tages für Baldur angebrochen. Er lag neben Herrchen auf dem Sofa, als plötzlich die Türklingel ihr, in seinen Ohren viel zu lautes, Klingelgeräusch absonderte. Herrchen verließ das Sofa, ging zur Tür und begrüßte eine Frau. Irgendetwas beredete Herrchen im Hausflur mit der fremden Frau. Baldur war das egal, er störte sich in seiner ruhigen Art nicht an Menschen. Manchmal, wenn er noch in seinem Körbchen oder auf dem Fußboden lag, stand er auf und beschnüffelte Gäste kurz. Es hätte ja immer sein können, dass dort irgendwelche Leckerchen abfielen. Wenn er aber den anstrengenden Weg auf das Sofa hinter sich hatte, kletterte er wegen Besuchern nicht extra hinunter. Er blieb einfach liegen und genoss seinen bequemen Platz in der Hoffnung, dass Herrchen den Besuch bald wegschicken und zurück zu ihm auf das Sofa kommen würde. Und ihm dann diese wohltuenden Streicheleinheiten geben würde. Diese Streicheleinheiten, die ihm so viel bedeuteten, die ihm in seinem schmerzenden und schwer atmenden Leben die meiste Lebensqualität schenkten.
Doch heute schickte Herrchen den Besuch nicht wieder weg oder setzte sich wie sonst an den großen Tisch, um mit dem fremden Menschen irgendwelche, für Baldur unverständlichen Worte auszutauschen.
Nachdem Herrchen mit der Frau einige Zeit im Flur geredet hatte, kamen die beiden Menschen ins Wohnzimmer und gingen direkt auf das Sofa zu, auf dem Baldur gemütlich lag. Aber nicht Herrchen setzte sich neben ihn, sondern die Frau. Und sie fing nicht an, den Streicheljob von Herrchen zu übernehmen. Im Gegenteil. Nachdem sie sich hingesetzt hatte, rückte sie immer näher an Baldur heran. Und nicht nur näher. Als sie direkten Körperkontakt hatte, rückte sie noch weiter. So weit, dass sie anfing, ihn zu schieben. Nun, es ist nicht leicht, eine liegende Bulldogge zu schieben. Baldur setzte sich dem entgegen. Schließlich war es sein Platz, sein abendliches Ritual, das ihm die einzigen echt guten Gefühle des Tages brachte. Er versuchte, sich nicht von seinem Platz wegschieben zu lassen. Wozu auch? Da kommt ein wildfremder Mensch und dringt einfach so in sein Leben und das Leben von Herrchen ein. Was soll das?
Doch die Frau gab nicht nach. Schließlich wandte sie so viel Kraft beim Schieben des Hundes mit ihrem Schenkel auf, dass Baldur vom Sofa geschoben wurde. Am Rand angekommen, befand sich sein Körper plötzlich irgendwie im „luftleeren Raum“. Das Sofa war nicht mehr unter ihm, und er fiel unsanft herunter. Genau auf seine sowieso schon schmerzenden Ellbogen. Aber er war von der gesamten Aktion so überrascht und überrumpelt, dass er nicht einmal aufjaulte, obwohl der stechende Schmerz nach dem Sofasturz nur schwer zu ertragen war. Baldur war verdutzt und ging verwirrt und auch etwas verängstigt, mit schmerzenden Ellbogen und stärker aufkeimender Luftnot, in sein Körbchen. Von da aus konnte er noch beobachten, wie Herrchen mit der Frau etwas besprach. Er konnte die Worte nicht verstehen, so wie er die gesamte Situation nicht verstehen konnte. Vom Gespräch der Menschen drangen für ihn unverständliche Laute in sein Ohr. Er hörte im Wortschwall so etwas wie Dominanz, dominieren, stur und noch mehr. All das konnte er nicht zuordnen und blieb in seinem Körbchen.
Als die Frau gegangen war, wurde es noch merkwürdiger. Als er zum Sofa ging und Herrchen mit vertrautem Wuffen darum bat, ihn raufzuheben, passierte nichts. Baldur probierte es auch nicht oft und ging irgendwie verwirrt und traurig zurück in sein Körbchen. Und als er es am nächsten Tag wieder versuchte, reagierte Herrchen wieder nicht. Also setzte er seine ganze Kraft ein, um selbst auf das Sofa zu klettern. Zwar nicht sehr elegant, aber dennoch gelang es ihm irgendwie. Doch was machte Herrchen? Er schob ihn genauso unsanft herunter, wie es die fremde Frau getan hatte. Wieder fiel er auf seine schmerzenden Ellbogen… Er gab auf. Von dem Moment an ging er nicht mehr zu Herrchen.
Das alte Ritual der beiden existierte nicht mehr. Und auch das einzige, worauf sich der schmerz- und atemnotgeplagte Hund freute, durfte er nicht mehr genießen. Keine Hormone der Vorfreude, keine angenehmen Gefühle durch Streichelrituale. Das wurde ihm verwehrt, seit ein fremder Mensch ihn vom Sofa geschubst hatte und danach Wörter mit Herrchen getauscht hatte, die irgendwie wie „dominieren“ oder so ähnlich in seinen Ohren geklungen hatten. Worte, die er nicht verstand und die für ihn auch keinerlei Bedeutung hatten.
Baldur durfte seine wenigen angenehmen Gefühle des Tages nicht mehr genießen. Stattdessen lernte er ein anderes Gefühl kennen. Ein Gefühl, das wir Menschen mit Traurigkeit beschreiben würden…