13/01/2025
„Ohrläppchen-Zupfen“ ist kein Beschwichtigungs-Signal.
Wenn ich jemandem, der sich gerade aufregt, wohlwollend die Hand auf die Schulter lege,
versuche ich gezielt, ihn zu beruhigen bzw. in seiner Erregung zu beschwichtigen.
Das kann sicher als Beschwichtigungs-Signal durchgehen. Meine Handlung ist als bewusst und gewollt anzusehen.
Wenn ich aber jemandem gegenüberstehe, der mich stresst, und ich dann im Gespräch anfange, mich nervös am Ohrläppchen zu zupfen, dann ist das ein stressbedingtes Übersprungsverhalten.
Damit soll ein inneres Ungleichgewicht im Organismus in Richtung Gleichgewicht organisiert werden.
Selbst wenn das Ohrläppchen-Zupfen die Wirkung eines Beschwichtigungssignals mit sich bringen sollte, es ist und bleibt definitiv stressbedingten Ursprungs und kann damit die bewusste Zielstellung einer Beschwichtigung überhaupt nicht erfüllen. Die Zielstellung ist ja das Gleichgewicht im Organismus und nicht die Beschwichtigung.
Also ist „Ohrläppchen-Zupfen“ definitiv KEIN Beschwichtigungsverhalten, ganz gleich ob es als solches wirkt oder nicht.
So, und jetzt zu unseren Hunden. Hunde können – wie Menschen übrigens auch – nicht bewusst gähnen. Gähnen passiert halt. Als Reaktion auf Müdigkeit, Erregtheit, Stress und ähnlichem.
Zielstellung? Wieder mal ein inneres Gleichgewicht organisieren bzw. die Sauerstoffzufuhr regulieren.
Beschwichtigungssignal? Auch wenn es mal so wirken mag, Gähnen ist KEIN Beschwichtigungssignal! Weder bei Menschen noch bei Hunden.
Kommen wir nun zu Beschwichtigungs-Signalen: Der Hund erkennt, dass sein Besitzer schlechte Laune hat, geht zu ihm und hat die Zielstellung, das Verhalten seines Besitzers zu beeinflussen. Dabei wählt er die sozialen Tools Kommunikation und Interaktion.
Er legt sanft den Kopf auf dessen Knie, beleckt gezielt Hände oder auch Gesicht, nimmt beim Blickkontakt die Ohren nach unten oder hinten und legt letztlich – wieder sanft – die Pfote auf das Bein des Besitzers. Ja, das hochintelligente Sozialsystem des Hundes kann tatsächlich auch Trost spenden!
Zielstellung? Durch den Einsatz operanter (bewusst und willentlich gesteuert) Maßnahmen möchte dieser Hund über Kommunikation und Interaktion den Menschen so positiv wie möglich beeinflussen. Er will genau das tun, was er tut und verfolgt eine klare Zielstellung.
Jetzt haben wir sie endlich: die Beschwichtigungssignale! Face-To-Face, kommunikativ, und vor allem bewusst und gewollt.
Aber Gähnen, sich Kratzen oder sich Schütteln als Beschwichtigungssignale zu bezeichnen, ist schlicht und einfach falsch. Schade, dass dies auch heute noch einfach falsch gelehrt wird. Das Mixen von Beschwichtigungssignalen und Übersprungsverhalten sollte unbedingt unterlassen werden, da es vor allem in der Praxis zu kuriosen Fehleinschätzungen hundlichen Verhaltens im Training und in der Analyse führen kann
Dabei ist doch die Formel ganz einfach:
Spontan gezeigtes Verhalten, das auf Stressreaktionen zurückzuführen ist, nennt man stressbedingte (Übersprungs-)Handlung und damit kann es kein Beschwichtigungs-Signal sein, selbst wenn es so wirken sollte.
Bewusst und gewollt gezeigtes Verhalten, das ausschließlich dazu dienen soll, den anderen Hund zu „beruhigen“, kann zweifelsfrei als Beschwichtigungs-Signal bezeichnet werden.
Das aber alles nach wie vor in einen Topf zu werfen, ist einfach fachlich zweifelsfrei weder korrekt noch zielführend, wenn wir uns mit Hundeverhalten kompetent auseinandersetzen wollen.
Thomas Baumann
Januar 2025