10/02/2025
«Das Problem befindet sich immer am Ende der Leine» – bis dir einmal im Leben die Genetik eines Hundes auf die Füsse fällt
Wie oft haben unsere Kund*Innen diesen Spruch schon gehört, wenn sich Fido mal wieder wie die Axt im Wald an der Leine benimmt. Oder den Besuch gebissen hat. Von Trainer*Innen, Spaziergänger*Innen, Züchter*Innen, der Nachbarschaft oder was weiss ich. Und die Übersetzung davon ist: Du bist das Problem.
Oder:
- Du hast versagt.
- Du hast deinen Hund nicht im Griff.
- Du bist schuld.
- Du hast zu wenig gemacht. Oder zu viel. Egal. Aber auf jeden Fall das Falsche.
- Bei jemand anderem wäre dieser Hund eine Friedenstaube.
So weit so gut. Nur: Was helfen solche Sprüche? Sie sind weder hilfreich noch zielorientiert. Und sie sagen (wie so oft) mehr über die Person aus, die sie sagt, als über die, an die sie gerichtet sind.
Aber ist es denn wirklich so einfach? Ist immer der Mensch «schuld» am Verhalten seines Hundes? Schauen wir uns zuerst doch einfach mal zwei völlig unterschiedliche Situationen an:
Situation A
Herr Alois ist mit seinem dreijährigen Malinoisrüden Anton unterwegs, als ihm Familie Adalbert entgegenkommt: Zwei der Kinder rennen schreiend einem Fussball hinterher, das dritte Kind flitzt mit seinem MiniScooter kreuz und quer, die Mutter trägt das vierte Kind auf den Schultern, während eine röchelnde, in der Leine hängende Französische Bulldogge den Vater hinter sich herzieht.
Und dann löst der Mali aus: Mit voller Wucht und Lautstärke schmeisst er sich in die Leine und wenn er könnte, wie er gerade wollte, wäre das für niemanden mehr lustig oder angenehm.
Situation B
Schafhirt Benni hat gerade die unteren Zäune kontrolliert. Weit hinten sieht er Bella und Bana zwischen den Schafen ruhen. Die beiden Maremmano-Hündinnen sind Geschwister und bewegen sich oft in Sichtweite zueinander in der Herde. Als Benni zu der hinteren Felsformation geht, kommt ihm Bali entgegen. Der stattliche Rüde holt sich ein paar Streicheleinheiten und legt sich dann wieder hin. Von oben nähert sich eine Wandergruppe. Die beiden Hündinnen stellen sich vor die Herde, bellen. Bali steht ebenfalls auf, geht ein paar Schritte Richtung der fremden Menschen, macht sich gross, knurrt. Dann bellt er kurz. Die Leute halten Abstand, alle Hunde legen sich wieder hin.
Zur Situation A
Ja, natürlich habe ich mich einiger Klischees bedient. Oder auch nicht? Denn nehmen wir mal an, wir ersetzen den dreijährigen Malinoisrüden Anton durch den dreijährigen Kleinpudelrüden Anatol. Und Herr Alois hätte vom gleichen Tag an alles gleich gemacht wie mit dem Mali Anton. Vielleicht würde auch Pudel Anatol in dieser Situation irgendwann in der Leine hängen. Aber ziemlich sicher nicht mit dieser Wucht und nicht mit dieser Aufregung wie Anton und würde die Leine reissen, wäre es wohl auch nicht sehr angenehm, aber bei weitem nicht so gefährlich wie bei Anton.
Zur Situation B
Und jetzt ersetzen wir mal auf der Alpwiese Bella und Bana durch die Kleinpudelhündinnen Bila und Bente und den Maremmanorüden Bali durch den Kleinpudelrüden Bundi: Hirte Benni hätte immer wieder tote Schafe, denn die Pudel hätten sich den erstbesten Spaziergängern angeschlossen und wären nie mehr in der Nähe der Schafe gesichtet worden.
Wie oft hat nun Herr Alois mit seinem Mali schon zu hören bekommen, das Problem liege immer am anderen Ende der Leine? Oft. Wie oft hat Benni das schon zu hören bekommen (haha, die HSH sind ja nicht an der Leine, aber ihr versteht schon…)? Wahrscheinlich noch nie.
Weshalb wäre die Situation für Benni der Supergau, wenn er drei Kleinpudel hätte? Aha. Weil Kleinpudel nicht seit hunderten von Jahren dafür gezüchtet und selektioniert wurden, Vieh zu beschützen. Genetik eben.
Weshalb wären solche Situationen für Herrn Alois sehr viel angenehmer, wenn er einen Kleinpudel hätte? Weil Pudel viel weniger reizoffen sind als Malinois, nicht seit Generationen als Dienst- und Sporthund gezüchtet werden, in denen diese Reizoffenheit genauso wichtig ist, wie Schnelligkeit, körperliche Härte, der Wille in Konfliktsituationen nach vorne zu gehen und hohe Erregungslagen in einem gewissen Mass zu suchen und auch zu geniessen. Genetik eben.
Bedeutet das nun, dass Herr Alois damit leben muss? Weil «Malis halt so sind»? Nein. Das bedeutet aber, dass Herr Alois, um dieses Problem zu lösen, mehr Zeit und Energie investieren muss, als jemand, der einen Kleinpudel hat. Und dass von einem Malinois oder Rottweiler oder Bullterrier oder oder eben eine deutlich höhere Gefährlichkeit ausgeht, wenn die Genetik zuschlägt (um es mal ganz plump zu sagen).
Beissen können sie alle. Natürlich. Aber je nach Körpergrösse, Körperbau und Genetik hat dies völlig andere Auswirkungen. Und wer das beschönigt und negiert, handelt in meinen Augen schlicht grobfahrlässig.
Und ja, ich weiss: Es gibt natürlich auch die total gefährlichen Kleinpudel. Und es gibt auch den Malinois, der als Nannydog (nur schon bei diesem Wort steigt mir die Galle hoch) so wunderbar ist. Aber nur weil die Grossmutter meines Kinderfreundes geraucht hat wie ein Bürstenbinder und trotzdem 99 wurde, heisst das nicht im Umkehrschluss, dass Rauchen keinen Einfluss auf die Gesundheit hat. Es geht hier um Wahrscheinlichkeiten.
Zurück zum Anfang: Nein, das Problem liegt schlicht und einfach NICHT immer und nur am anderen Ende der Leine. Denn da spielt noch so was Kleines, Nettes mit, das sich Genetik nennt. Und diese soll weder als Ausrede («Pudel kläffen halt, da kann man nichts machen»), noch als Schuldzuweisung («Ich habe als Züchter*In eine Topverpaarung gemacht, dieses Verhalten ist hausgemacht») dienen.
Einmal mehr heisst es: Augen auf bei der Rassewahl, Rassemixen oder beim Herkunftsland des Hundes. Und nur, weil ich «Deutsch Drahthaar so schön finde», heisst das nicht, dass ich mit solch einem Hund in meiner jetzigen Lebenssituation, meinen Fähigkeiten und meiner Persönlichkeitsstruktur glücklich werde (und der Hund auch nicht). Denn von «schön» wird man nicht glücklich. Und Genetik lässt sich weder wegerziehen, noch schönreden.
Nina Miodragovic
www.so-denkt-ihr-hund-mit.ch
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