01/11/2023
Sehr sehr nachdenkenswert, deshalb veröffentliche ich diese Worte mit Erlaubnis der Autorin aus der geschlossenen Gruppe Oliveira light:
"Neulich hatte ich Gelegenheit, einer kleinen Sequenz einer Reitstunde beizuwohnen, von der ich hier einmal berichten möchte. Einfach nur so, wertfrei und vielleicht zum Nachdenken anregen.
Ich frage mich, warum so viele an einem derzeitigen System festhalten, in dem die "schwierigen" Lektionen nur wenigen Reitern vorbehalten sind, obwohl sie doch jedes Pferd auf der Koppel bereits als Fohlen vollführen kann? Dabei sollen doch gerade diese Lektionen dem Pferd helfen, den Reiter schadfrei tragen zu können?! Kaum ein Reiter dieses Systems schafft es in seinem ganzen Reiterleben über die Klasse A/L hinaus. Wieso nur?
Hier meine Eindrücke dieser kleinen Unterrichtssequenz in einem normalen modern geführten Stall:
Reiterin und Pferd hatten die Aufgabe, zwischen zwei Stangen rückwärts zu richten.
Auf den fraglichen Sinn der Stangen komme ich später noch einmal zurück. Das Paar reitet also im Schritt zwischen den Stangen hindurch bis zum Ende, stoppt.
Pferd irgendwo zwischen Hand und Bein - zum Glück hat es richtig geraten, dass es anhalten sollte. Nun das Kommando "zurück". Pferd rät richtig "andersrum", wieder machen Hände und Beine der Reiterin irgendwas, worauf das Pferd zunächst richtig reagiert und den Rückwärtsgang einlegt.
Aber noch bevor die erste Sequenz abgeschlossen ist, driftet die Hinterhand des Pferdes nach links und übertritt die Stange. Reiterbein versucht, dem entgegen zu wirken, vergeblich. Wie auch?
Die Schultern sind ja nicht vor der Hinterhand, die Hand zieht weiterhin zurück, das Pferd verlässt mit beiden Hinterbeinen die Hilfsmittel. Die Trainerin weist die Schülerin ruhig und freundlich an, nochmal von vorne anzufangen. Also gehen die beiden eine voltenähnliche Form zum Eingang des Stangenpaares und durchreiten diese erneut. Dieses Schauspiel hat sich ungefähr vier mal wiederholt, jedes Mal wurde das Ausweichen des Pferdes stärker, statt besser und immer mehr driftet die Hinterhand nach links... .
Das Résümé der Reiterin noch auf dem Pferd: "jetzt nimmt er die Stangen noch nicht einmal mehr wahr". Die Ausbilderin hat das nicht weiter kommentiert.
Aus meiner Sicht ist diese kleine Beobachtung symptomatisch für die Situation in unseren Reithallen, in der "klassischen" Reiterei der FN.
Ein System, in dem mit Tricks gearbeitet wird, ist eben genau solch eines und Pferde kennen keine Tricks, sie zeigen nur die Wahrheit. Die war in diesem Fall: Pferdi war nett und hat sich bemüht zu tun, was die Reiterin ihm vermittelt hat. Da deren Einwirkung aber diffus und widersprüchlich war, konnte das Pferd selbst interpretieren, was zu tun war - in diesem Fall eben seiner Schiefe folgen.
Der Wert der Übung ("Lektion") lag in diesem Fall bestenfalls darin, die Schiefe des Pferdes aufzuzeigen. Da der eigentliche Wert des Rückwärtsrichtens aber vielmehr in seiner Wirkung auf die Hanken und der Flexion des Beckens liegt, war das Manöver wenig sinnvoll. Wie so vieles im allgegenwärtigen reiterlichen Alltag.
Im Wesentlichen geht es mir einfach um die Frage, wieso können nur sehr wenige ein ganzes System in Frage zu stellen, in dem lahme, widersetzliche Pferde und Frust der Reiter Normalität sind? Können die Hater / Kritiker des vertikalen Weges nicht zugeben, dass es ihnen Angst macht, sich auf den Weg der Pferde zu begeben? Ist es wirklich so viel furchtbarer, die eigenen Schwächen anzuerkennen als ständig irgendwelche Therapeuten und Hilfsmittel zu bezahlen, die bestenfalls für kurze Zeit helfen, aber keine nachhaltige Besserung bringen? Was wäre, wenn man sich vornehmen würde, ab diesem Augenblick und für alle Zukunft nur noch auf das Pferd zu hören?
Ohne Tricks zu arbeiten, sondern sich der Wahrheit der Pferde zu stellen? Sind Eitelkeit, Faulheit und der Mangel an Bereitschaft an sich selbst zu arbeiten so viel stärker als ein vielleicht diffuses Gefühl, dass es einen anderen Weg geben könnte, der uns als Reitern und auch als Menschen hilft, besser zu werden? Einen Weg, der vielleicht keine Schleifen und Rosetten verspricht, der über jeden Zweifel erhaben ist und der uns mit unseren Pferden zu einer echten Einheit werden lässt? Der uns der diversen Lügen überführt, um in einfachen Wahrheiten eine neue alte Kraft zu finden? Wie unreflektiert kann man sein, zu glauben, dass dieses oder jenes Hilfsmittel dem Pferd hilft zu verstehen, wie was richtig zu machen ist - der falschen Einwirkung des Menschen zum Trotz!?
Sicher ist, dass man heutzutage das Wissen um die Kunst des einfühlsamen Reitens suchen muss, wie die Stecknadel im Heuhaufen. Zum Glück werden es mehr vertikale Lehrer, die in der Lage sind, aus "triebigen" Pferden wache, aufmerksame, kooperative, gesunde und leistungsbereite Partner zu machen und aus Widerwillen Stolz und Vertrauen zu machen. Wir machen aus Reitern mit diffusen Ideen Menschen mit klaren Vorstellungen, die in der Lage sind, Lektionen PRO Pferd einzusetzen.
Ich kann und will nicht akzeptieren, dass die Menschen tatsächlich die gesenkten Häupter des V/A für erstrebenswert halten und dass man es als normal ansehen muss, dass in den meisten Ställen mehr Therapeuten zu sehen sind, als gute Lehrer!"
Anmerkung: selbstverständlich gibts auch Ausnahmen und kein Weg ist nur schwarz oder weiß - ABER: generell gilt: wenn Mobilisation und Flexion und Schulgangarten nicht zum täglichen Arbeitsrepertoire gehören, dann fehlen die Basics für die dauerhaft gesunde Entwicklung eines Pferdes. Und bereits das Rückwärtsrichten wird zum mittelschweren Unterfangen ohne Lösung.
Das Deutsche Sportpferd Lilly stammt genau aus diesem System - und es dauerte drei Jahre, sie davon zu überzeugen, dass es auch anders geht....
Foto Klaus Trotter