11/12/2022
Heimtiere – Ganz oder gar nicht!
Von Johanne Bernick, Tierärztin
Heimtiere: Ein unscharf definierter und nicht sofort einleuchtender Begriff unseres tiermedizinischen Fachjargons, den wir erst mal kurz klären müssen. Eine Kleintierpraxis wie die unsere fühlt sich zuständig für alle Haustiere (englisch „Pets“) vom Hund abwärts und grenzt sich mit dieser Bezeichnung von der Medizin der Groß- und Nutztiere ab. Die Heimtiere wiederum sind (in unserem Fachsprech!) eine Teilmenge der Kleintiere. Das ist eine nicht dem allgemeinen Sprachgebrauch folgende Differenzierung, die für uns aber sowohl medizinisch als auch gebührentechnisch sinnvoll ist.
Zu diesen Heimtieren (in der seit Ende November geltenden Neufassung der Gebührenordnung auch „Kleinsäuger“ genannt) zählen wir in Deutschland Kaninchen, Meerschweinchen, Degus, Chinchillas, Ratten, Mäuse und Co. Allesamt Tiere, die zwar niedlich und flauschig anzusehen sind, den Besitzer:innen aber so einiges abverlangen, was die artgerechte Haltung und die adäquate medizinische Versorgung angeht. Ganz pauschal fordern diese Tiere von Besitzer:in und Tiermediziner:in mindestens den gleichen, wenn nicht sogar einen deutlich größeren Aufwand als Hund und Katze.
Der Heimtierbereich ist aber bis heute eine Achillesferse der deutschen Tiermedizin. Da treffen leider gleich drei ungute Faktoren zusammen, mit häufig fatalen Folgen für die kleinen Patienten, nämlich a) bezüglich dieser Tierarten nicht ausreichend sachkundige Kolleginnen und Kollegen, die sich trotzdem berufen fühlen, mehr schlecht als recht mitzumischen, b) ein ausgesprochen stürmisch verlaufender medizinischer Erkenntnisgewinn, der das fachliche Am-Ball-Bleiben nicht einfacher macht, und c) bezüglich der artgerechten Haltung völlig unterinformierte, unengagierte und geizige Besitzer:innen.
Kehren wir erstmal, wie es sich gehört, vor der eigenen Tür: Leider ist die Heimtiermedizin während des Studiums angesichts ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und des Fallaufkommens nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. Das mag von Uni zu Uni unterschiedlich sein, aber im Durchschnitt lernt man als Student:in diesbezüglich zu wenig bis gar nichts. Alle tiefer gehenden Kenntnisse, die man als Tierärzt:in auf diesem Gebiet hat, musste man sich nach dem Studium durch zeitraubende und teure Fortbildungen erst erwerben. Das kann man machen, muss man aber nicht. Es steht allen Kolleginnen und Kollegen völlig frei, die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit selber festzulegen und auszubauen. Es ist auch nicht schlimm, wenn man sich als Tierärzt:in mit den Heimtieren eher nicht eingehender beschäftigen will. Zum Problem wird das nur a) wenn man dann trotzdem meint, an diesen Patienten rumbasteln zu müssen, und b) im Notdienst. Im Alltagsbetrieb kann man ja diese Tierarten mit Verweis auf fehlende Spezialkenntnisse gut und gerne woanders hin empfehlen, im Notdienst funktioniert das leider nicht. Deshalb muss es eine (eher ethisch als rechtlich begründete) Forderung sein, dass alle im Kleintierbereich praktisch tätigen Kolleginnen und Kollegen sich irgendwie die absoluten Basics der Heimtiermedizin aneignen müssen.
Hat man sich diese so wichtigen Basiskenntnisse für zumindest eine kompetente Notfallversorgung von Heimtieren erst mal erarbeitet, gilt es, diese auch auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu halten, und das ist in diesem sich sehr schnell weiter entwickelnden Teilgebiet alles andere als einfach. Was da vor wenigen Jahren noch als Standard galt, ist heute völlig indiskutabel, in Teilen sogar tierschutzwidrig. Beispielsweise wurden die (permanent nachwachsenden) Zähne von Hasenartigen und Nagetieren bei Fehlstellungen weit verbreitet und gewohnheitsmäßig mit einer speziellen Zange abgeknipst, was heute als lupenreiner Kunstfehler gilt, da mittlerweile bekannt ist, dass das Abknipsen der Zähne zu Zahnfrakturen und nachfolgend zu Kieferabszessen führen kann. Auch werden bei Heimtieren deutlich mehr operative Eingriffe als früher unter optimierten Narkosen und mit entsprechend verbesserter Prognose durchgeführt. Die Basics der Heimtiermedizin holen zügig auf und lassen das jahrzehntelange qualitative Ungleichgewicht in der Versorgung von Hunden und Katzen einerseits und den Heimtieren andererseits stetig kleiner werden.
Bei einer so rasanten Entwicklung ist es sehr leicht, fachlich abgehängt zu werden. Dementsprechend scheint sich aktuell eine immer größer werdende Kluft in der Heimtiermedizin aufzutun: Die leider immer noch vereinzelt vorkommenden und in einer Welt von vorgestern agierenden „Zahnknipser“ auf der einen und die mit hochauflösenden CTs ausgestatteten Heimtier-Cracks auf der anderen Seite. Als breit aufgestellte Haustierarztpraxis, die sich auf zu weit gehende Spezialisierungen nicht einlassen will und kann, ist es da gar nicht so einfach, seinen Standort zu definieren.
Eins steht jedenfalls fest: Sobald Heimtiere zum Klientel gehören, muss verpflichtend ein gewisser Standard eingehalten werden. Sonst sollte man besser gleich die Finger davon lassen. Möchten wir also die gute alltägliche Versorgung von Heimtieren gewährleisten, gehören ausreichende Kenntnisse zu den geläufigsten Erkrankungen dieser Tiere und der unbedingte Wille zum frühzeitigen, aggressiven Einsatz weitergehender Diagnostik (Röntgen, Ultraschall, Blutuntersuchung) einfach dazu. Die Heimtiere mit ihrer Neigung, jedwedes Leiden möglichst nicht (oder erst kurz vor Eintritt des Todes) nach außen zu kommunizieren, sind absolut keine guten Kandidaten für eine abwartend-beobachtende Vorgehensweise.
Einen großen Anteil dieser Erkrankungen, machen - wie schon angedeutet - die Zähne aus: Wir sehen mittlerweile fast kein Kaninchen mehr über 5-6 Jahren, welches keine Zahnprobleme hat. Zumeist entstehen diese Probleme durch angeborene Missbildungen (besonders kurzköpfige Kaninchen oder Widderkaninchen), bestimmte Vorerkrankungen (Mittelohrentzündung) und/oder falsche Haltung und Ernährung (die Fütterung von Kraftfutter beispielsweise).
Liegt auch nur der Hauch eines Verdachts auf Zahnprobleme vor – und das ist bis zum Beweis des Gegenteils leider fast immer der Fall – müssen verpflichtend Röntgenaufnahmen des Schädels in verschiedenen Winkeln angefertigt werden, die den einzig korrekten Weg darstellen, zu einer ersten Einschätzung des Zahnstatus zu kommen.
Dieses Röntgen und die sich daraus oft ergebenden Okklusionskorrekturen (Zahnschlusskorrekturen) können nicht im Wachzustand durchgeführt werden, also muss eine ausreichende und sichere tiefe Sedierung oder sogar Narkose her. Dabei geht es NICHT einfach um die Narkose eines sozusagen geschrumpften Hundes oder einer verkleinerten Katze. Die Anästhesie der Heimtiere ist ein sehr spezielles und schwieriges Teilgebiet, zumal wir es dabei ja mit gleich mehreren unterschiedlichen Tierarten mit jeweils ganz spezifischen Eigenheiten zu tun haben. Die Auswahl der richtigen Medikation, die Sicherstellung der Sauerstoffversorgung während der Sedierung bzw. der Narkose und die Überwachung der Vitalfunktionen sind genau so notwendig wie bei Hund und Katze und bedeuten keineswegs einen geringeren Aufwand, nur weil diese Tiere kleiner sind.
Bis vor ein paar Jahren waren nach bestimmten Regeln sauber angefertigte Schädelröntgenaufnahmen die Spitze der Diagnostik von Zahnproblemen bei Heimtieren. Der Feind des Guten aber ist nun mal das Bessere. Spezielle, sehr fein auflösende Computertomographie-Geräte liefern geradezu fantastische Bilder und ermöglichen eine nochmal deutlich verbesserte Diagnosestellung. Das Problem dabei ist nur, dass sich diese sehr teuren Geräte leider (noch) nicht an jeder Ecke finden, so dass wir Sie, wenn wir mit dem Röntgen an unsere diagnostischen Grenzen stoßen, über relativ große Entfernungen überweisen müssen. Allerdings sind die solche Geräte betreibenden Kolleginnen und Kollegen fast automatisch hochgradig auf Heimtierkrankheiten spezialisiert, so dass sich aus den CT-Aufnahmen ergebende Eingriffe in der Regel auch gleich dort vor Ort durchgeführt werden können.
Auf Seiten der Besitzer:innen von Heimtieren bzw. Kleinsäugern bemerken wir ebenfalls eine Kluft, und zwar zwischen Menschen, die ihre Kaninchen, Meerschweinchen, etc. keinen Deut anders sehen als Hunde- oder Katzenhalter:innen ihre Tiere, nämlich als Familienmitglieder, für deren optimale Haltung und Versorgung kein Aufwand zu viel ist, und Menschen, die solche Tiere ohne die notwendigen Vorinformationen spontan (oft „für die Kinder“) angeschafft und keinen blassen Schimmer von ihrer artgerechten Haltung haben und zudem fest davon ausgehen, dass sich die tiermedizinischen Behandlungskosten dieser Tierarten direkt proportional zu ihrem (leider nach wie vor viel zu niedrigen) Anschaffungspreis verhalten würden.
Letzteres ist eine dramatische Fehleinschätzung! Die novellierte Gebührenordnung hat ganz im Gegenteil den Bereich der Kleinsäugermedizin massiv aufgewertet, so dass in Kombination mit dem weiter oben erläuterten Erkenntnisgewinn zur korrekten medizinischen Versorgung dieser Tiere im Erkrankungsfall sehr hohe finanzielle Belastungen entstehen können, die darüber hinaus – außer bei Kaninchen – bisher nicht durch den Abschluss einer Tierkrankenversicherung abgefedert werden können.
Es gibt die Halter:innen unter Ihnen, die keine Kosten und Mühen scheuen, ihre halbe Wohnung zum Heimtierparadies modifizieren, sich viel Wissen aneignen und sehr sensibel mit den Tieren umgehen und die beste medizinische Versorgung für ihre Lieblinge bereitwillig bezahlen. Und, was soll ich sagen: Sie haben meinen größten Respekt! Mit der Haltung von Heimtieren lässt man sich nämlich auf die aufwendigste Tierhaltung ein, die mir derzeit bekannt ist (siehe auch: Das Kaninchen: Ein schwieriges Haustier: https://www.tierarzt-rueckert.de/blog/details.php?Kunde=1489&Modul=3&ID=19115 ). Sie wissen, wie gefährlich ein Durchfall oder fehlende Futteraufnahme sein können. Sie wissen, dass Abwarten und Zusehen keine Option ist. Sie wissen, dass tägliche Kontrollen samt regelmäßiger Prüfung der Gewichtsentwicklungen essentiell sind. Sie wissen ganz einfach, dass Sie ein Lebewesen als Haustier halten, welches Schmerz so gut es geht versteckt und dessen Versorgung immer (!) intensiv ist!
Auf der anderen Seite der Kluft, sozusagen als Pendant zu den „Zahnknipsern“ in unserem Berufsstand, sehen wir uns leider wohl vertraute Bilder des Schreckens: Das artwidrig einzeln gehaltene Kaninchen, das nie aus seinem viel zu kleinen Verschlag raus darf. Das Tier, das seit Wochen unbemerkt immer magerer und uns erst vorgestellt wird, wenn das Kind sprichwörtlich schon in den Brunnen gefallen ist und selbst die Euthanasie Wochen zu spät kommt (dazu passend Tierschutzverletzung durch Vernachlässigung: Blinde Wut oder eiserne Selbstkontrolle: https://www.tierarzt-rueckert.de/blog/details.php?Kunde=1489&Modul=3&ID=20468 ). Kotverschmierte oder von Maden wimmelnde Anogenitalregion, eitriger Augenausfluss, eine Zahnfehlstellung, die einem buchstäblich entgegen winkt und korkenzieherförmig überwachsene Krallen, all das sieht man immer noch viel zu häufig. Wenn sich die Besitzer:innen solcher Tiere dann doch mal in eine Tierarztpraxis verirren, lassen sie nicht selten Sätze fallen wie „Es ist doch nur ein Kaninchen, wozu der ganze Aufwand“ oder (mein persönlicher Favorit) „Es frisst ja noch, so schlimm wird es schon nicht sein“.
Lassen Sie uns ein Fazit ziehen und beginnen wir mit einem für Sie vielleicht überraschenden Statement: In unseren Augen sind die Heimtiere bzw. Kleinsäuger eigentlich keine echten Haustiere! Sie haben sich uns Menschen nicht wie der Hund und die Katze freiwillig angeschlossen. Wir halten sie genau genommen als Gefangene, oft genug auf eine Art und Weise, die meilenweit entfernt ist von den Lebensumständen ihrer wilden Verwandten. Sie können – wieder im Gegensatz zu Hund und Katze – nur sehr schlecht rüberbringen, wenn es ihnen nicht gut geht, und haben auch keine oder wenige Verhaltensweisen entwickelt, mit denen sie uns Menschen in ihrem Sinne manipulieren könnten.
Wenn wir diese Tierarten schon als Zwangs-Familienmitglieder haben wollen, dann sind wir ihnen wenigstens eine annähernd artgerechte Haltungsform und die bestmögliche medizinische Versorgung schuldig. Heimtierhaltung muss man also wirklich wollen und viel Mühe dafür aufwenden, um es eben richtig zu machen! Wenn Sie dazu nicht bereit sind, dann lassen Sie es lieber!
Wir führen gerne ausgiebige Beratungsgespräche, erklären Ihnen die Notwendigkeit von Untersuchungen und deren Ergebnisse, um Ihnen zu verdeutlichen, warum wir diesen Aufwand betreiben. Durchaus möglich, dass es immer mal wieder jemanden gibt, für den diese Informationen komplett neu sind, aber wir sehen uns natürlich auch dafür zuständig, offensichtliche Informationsdefizite zu beheben. Allerdings können auch Heimtierhalter:innen in Zeiten der permanent zur Verfügung stehenden Wissensquelle Internet nicht mehr länger darauf vertrauen, dass gravierende Missstände in der Heimtierhaltung von uns – den berufenen Beschützern der Tiere - kritiklos hingenommen werden. Wir haben kein Verständnis dafür, wenn Sie Probleme ignorieren, weil es Ihnen schlichtweg zu viel Aufwand ist, ob nun finanziell oder zeitlich! Wir wägen gerne mit Ihnen ab, und es gibt fast nie nur den einen richtigen Weg, was Diagnostik und Therapie angeht. Grobe Vernachlässigungen, auch was die Verweigerung einer adäquaten medizinischen Versorgung angeht, lassen wir aber ganz sicher nicht unter den Tisch fallen. Denn, wie gesagt: Auch die Heimtiere haben ein gesetzlich verbrieftes Recht auf eine ebenso gute Haltung und Versorgung wie Hund und Katze! Wird ihnen dieses Recht verweigert, schrecken wir in Härtefällen, bei denen wir seitens der Besitzer:innen gegen Mauern laufen, nicht davor zurück, die Kolleg:innen des zuständigen Veterinäramtes um eine Überprüfung der Tierhaltung zu bitten. Die Zeiten, in denen „Zähneknipsen“ auf der einen und absolut mangelhafte Heimtierhaltung auf der anderen Seite zum Alltag gehörten, sind vorbei!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihre
Johanne Bernick
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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