29/01/2023
Eine tolle und sachliche Zusammenfassung des geschätzten Kollegen aus München. Nutzen Sie den Sonntag und nehmen sich ein wenig Zeit für diesen aktuellen Überblick:
Dieser Artikel wird wieder mal länger - nehmen Sie sich bitte Zeit zum Lesen.
Der große Irrtum in der Tiermedizin
Angesichts der seit November 2022 gültigen neuen Gebührenordnung für Tierärzte (nGOT) gibt es von unterschiedlichen Seiten Überraschung und zum Teil Entrüstung. Da sorgt zum Beispiel bei Pferdebesitzern die Hausbesuchsgebühr (i. H. v. 41,00 EUR), die pro Besitzer berechnet wird, für einen Aufschrei in den einschlägigen Medien.
Die vielen Posten, die bei leitliniengetreuen und somit sicheren Narkosen oder bei den praxisinternen Laborleistungen neu zu Buche schlagen, überraschen Tierbesitzer und zum Teil auch Tierärzte.
Insgesamt ist das Preisniveau in der Tiermedizin mit der nGOT ein gutes Stück nach oben gerutscht.
Es gibt viele Rechtfertigungen für diese zwingend notwendige Gebührenerhöhung. Aber die sollen hier nicht noch einmal wiederholt werden.
In der Summe übersehen alle Diskutierenden einen besonders wichtigen Punkt – und begehen den großen Irrtum in der Tiermedizin.
Gute Tiermedizin (und Medizin) war noch nie billig – den Preis haben in den vielen letzten Jahren nur Andere bezahlt, nicht der Tierbesitzer.
Es waren das die Tierärzte, die nach dem Studium wenig verdienten, wochenlang Tag und Nacht arbeiteten. In deren Arbeitsverträgen waren im Grundlohn bereits sämtliche Nacht-, Wochenend-, Sonntagsdienste und Überstunden vollständig abgegolten. Für die jungen Assistenten waren 60 bis 80 Stunden Wochen die Regel und wurden klaglos geleistet. Ich selbst habe noch meinen ersten Arbeitsvertrag mit diesen Regelungen. Viele damalige Assistenten sind heute Inhaber und leisten seit Jahren auch heute noch ihre 60 Stunden/ Woche.
Das Arbeitszeitgesetz gab es damals übrigens auch schon. Da es nicht kontrolliert wurde – wurde es von allen Beteiligten geflissentlich ignoriert.
An den Universitäten wurde uns gelehrt, dass so unser Arbeitsleben aussehen würde; an den Kliniken und Praxen die Leistung gefordert und uns heute „älteren“ Tierärzten damals als normal und natürlich beigebracht. Tierärztliche Verbände, in denen zumeist die Inhaber großer Praxen und Kliniken in den entsprechenden Gremien sitzen, haben das Ganze mit niedrigen Mindestgehaltsempfehlungen noch untermauert.
Gleiches galt für die TFA, die Tiermedizinischen Fachangestellten. Niedrige Löhne waren genauso die Regel, wie schlechte Arbeitszeiten. Ein wenig besser als die Tierärzte waren sie nur durch einen bestehenden Tarifvertrag gestellt, der Rahmenbedingungen für Arbeitszeiten vorgab und Zuschläge vorsah.
Durch diese Maßnahmen konnte dem Tierbesitzer vermittelt werden, Tiermedizin würde ihn nichts kosten, Tiermedizin sei billig. Nur so konnte der Tierhalter einen günstigen Zahlbetrag an der Kasse der Tierärzte erhalten. Trotzdem wurden Preise verglichen und schnell mit einem Tierarztwechsel gedroht.
Den wahren Preis bezahlten jedoch die TFA und die Tierärzte.
Hohe Stundenbelastung und niedrige Löhne, schlechte Bewertungen und drohende Kunden, waren und sind für viele von uns ein zu hoher persönlicher Preis – die Selbstmordrate unter Tierärzten zählt weltweit zu den Höchsten.
Die nachfolgende Generation an Tierärzten möchte unsere Fehler nicht wiederholen und befindet sich aufgrund des Fachkräftemangels dazu auch in der passenden Verhandlungsposition.
Die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes wird zu Recht gefordert. Der Zoll kontrolliert die Einhaltung der Arbeitszeiten und Verstöße werden auch empfindlich geahndet.
Während früher eine Klinik durch wenige, schlecht bezahlte Tierärzte und noch weniger TFA ihren Betrieb rund um die Uhr am Laufen halten und für einen funktionierenden Notdienst sorgen konnte, ist das heute nicht mehr möglich. Viele Kliniken haben deswegen ihren Klinikstatus zurück- und den Notdienst aufgegeben.
Die Illusion der billigen Tiermedizin verpufft gerade – vor allem für die Tierbesitzer, aber auch für meine Generation von Tierärzten.
Der Verlust eines Privilegs
Für Sie als Tierbesitzer hat das im Moment die offensichtlichsten Folgen. Das jahrelange Privileg billiger Tiermedizin wird Ihnen einfach genommen. So ein Verlust schmerzt immer und stellt manche sogar vor nachvollziehbare Probleme und Fragen.
Das ist absolut nachvollziehbar.
Wenn ein Gut plötzlich deutlich teurer wird, empfindet das jeder sofort als „ungerecht“. Korrekt wäre jedoch das Wort „unerwartet“ oder „ungewohnt“.
Der neue Status Quo
Dennoch wird sich daran allein aus den Marktgegebenheiten nichts verändern können. Warum ?
Während 1970 noch ca. 1 Mio. Kinder geboren wurden, waren es 2005 nur noch 705.000 und noch weniger in den Folgejahren.
Menschen die nicht geboren wurden, werden auch keine Tierärzte und keine TFA.
Es herrscht auch bei uns ein biologisch begründeter Fachkräftemangel, der noch viele Jahre andauern wird.
In so einer Situation konkurriert die Tiermedizin mit allen anderen Berufen um Arbeitskräfte. Gehalt, Work-Life-Balance, freie Wochenenden, Stresslevel in der Arbeit und zu erwartender Kundenfreundlichkeit sind für Berufsanfänger heute Kriterien zur Berufswahl.
Die Tiermedizin hat dabei von Haus aus einen großen Malus – wenn Tiere krank werden oder verunfallen, halten sie sich nicht an Sprechzeiten. Arbeitszeiten, nachts und am Wochenende sind aber heutzutage unbeliebt.
Diesen Malus müssen Arbeitgeber in irgendeiner Form ausgleichen.
Das geht natürlich in erster Linie über das Gehalt, Zulagen und Boni.
Es geht natürlich über eine Einhaltung der Regelarbeitszeiten, über fachlich attraktive, moderne Arbeitsplätze und
es geht über ein nettes Klientel.
Die Tierärzte sind in allen genannten Bereichen gezwungen, aktiv zu werden, sofern Sie nicht allein ihre Praxis betreiben oder in Zukunft allein betreiben wollen.
Die Kosten müssen von den Praxen und Kliniken, um weiterhin gute tiermedizinische Versorgung gewährleisten zu können, dem Verursacher (=Tierhalter) auferlegt werden.
Die Tierärzte meiner Generation lernen das gerade und unsere Foren sind voll von Diskussionen über Preise und korrekte GOT-Anwendung. Diese Diskussionen sind emotional geführt und nicht nur bei den älteren Kollegen klingt das Lied von der Notwendigkeit zur billigen Tiermedizin noch immer durch.
Wir alle erleben aktuell einen ziemlich abrupten Paradigmenwechsel:
Während es in meiner Ausbildungszeit viele Tierärzte gab, die sich um wenige Tierhalter „geprügelt“ haben, gibt jetzt viele Tierhalter, die nach einem guten Tierarzt suchen, aber keinen mehr finden, der sie annimmt. Die Sprechstunden sind voll. Die Notdienste sind in weiten Teilen nicht mehr existent oder am Sterben.
Tierärztliche Arbeitgeber gibt es (noch) viele, tierärztliche Arbeitnehmer und TFA gibt es aktuell wenige.
Fazit
Wenn also Tierhalter auch in Zukunft Tierärzte vorfinden wollen, die für Ihr Tier da sind, bleiben zwingend folgende Überlegungen:
Meine Generation von Tierärzten muss sich über zukunftsorientierte Praxis- und Klinikmodelle Gedanken machen. Sie muss sich von den Vorbildern aus unserer beruflichen Jugend trennen, in denen Tierärzte und TFA unter Missachtung persönlicher Bedürfnisse rund um die Uhr und für geringen Lohn ihren Dienst verrichteten.
Die Zeiten der billigen Tiermedizin, gemessen am Zahlbetrag an der Kasse, sind bis auf Weiteres vorbei. Tierarztkosten sollten besser in das Haushaltsbudget eingeplant oder über eine Tierkrankenversicherung abgesichert werden.
Man muss sich Gedanken machen, wie viele Tiere man sich leisten kann und bedenken, dass Futterkosten und Zubehör in der Summe aber auch weiterhin weit über Tierarztkosten liegen.
Wer heute nach billiger Tiermedizin sucht, wird sie nur noch dort finden, wo die Wertigkeit nicht mehr vorhanden ist.