22/06/2023
Kastration: Nur legal mit medizinischer Indikation?
Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin
Kann man ja im Netz allenthalben lesen: „Eine Kastration ohne medizinischen Grund ist illegal!“. Dabei wird regelmäßig auf Paragraph 6, den sogenannten Amputations- und Organentnahme-Paragraphen des Tierschutzgesetzes abgehoben, speziell auf die Formulierung:
„Verboten ist das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres. Das Verbot gilt nicht, wenn (…) zur Verhinderung der unkontrollierten Fortpflanzung oder - soweit tierärztliche Bedenken nicht entgegenstehen - zur weiteren Nutzung oder Haltung des Tieres eine Unfruchtbarmachung vorgenommen wird.“
Dabei gewinnt man immer den Eindruck, dass die meisten nach der Hälfte dieses Absatzes zu lesen aufhören. Anders lässt sich nicht erklären, dass so häufig und so felsenfest behauptet wird, dass eine Kastration ausschließlich aufgrund einer medizinischen Indikation durchgeführt werden dürfe. Die reichlich gummiartige Formulierung „zur weiteren Nutzung und Haltung des Tieres“ öffnet nämlich Tür und Tor auch für Kastrationen aus anderen als rein medizinischen Gründen.
Nehmen wir zur Verdeutlichung ein Beispiel: Eine Ärztin, in eigener Praxis niedergelassen, hält eine intakte (nicht kastrierte) Hündin, die sie während ihrer Arbeitszeiten natürlich mit in die Praxis nehmen kann. Durch eine Änderung der Lebensumstände wird sie im weiteren Verlauf gezwungen, ihre Praxis aufzugeben und ihre Brötchen als angestellte Ärztin in einer anderen Praxis zu verdienen, wo sie allerdings ihre Hündin nicht mehr mit zur Arbeit bringen darf. Als Ausweg aus dieser Situation bietet sich die arbeitstägliche Unterbringung in einer Hundepension mit entsprechendem Angebot an. Allerdings fordert diese Pension aus nachvollziehbaren Gründen die Kastration der Hündin. Das ist sicher keine medizinische, sondern eine soziale Indikation für diesen Eingriff, der aber durch die oben hervorgehobene Formulierung des Tierschutzgesetzes eindeutig als rechtens eingestuft werden kann. Die weitere Haltung der Hündin ist für die Ärztin nur möglich, wenn sie das Tier während ihrer Arbeitszeit artgerecht untergebracht und versorgt wissen kann, und wenn die einzige realistische Möglichkeit zur Erfüllung dieser Voraussetzungen die Unterbringung in dieser Hundepension ist, dann ist die Kastration gerechtfertigt und der endgültigen Abgabe des Tieres in andere Hände natürlich vorzuziehen.
Richtig (und wichtig!) ist, dass der Gesetzgeber die Indikationsstellung (ob nun medizinisch oder sozial) mit der Formulierung „soweit tierärztliche Bedenken nicht entgegenstehen“ mehr oder weniger komplett in die Hände von uns Tierärztinnen und Tierärzten gelegt hat. Eine Kastration ist somit keine Dienstleistung, die Sie in Ihrer Tierarztarztpraxis einfach so einfordern können. Die im Netz ebenfalls immer wieder zu lesende, saloppe Formulierung „Lass ihn / sie doch einfach kastrieren und gut ist!“ haut so also auch nicht hin. Die letztendliche Entscheidung, ob eine rechtlich stichhaltige Begründung für eine Amputations- oder Organentnahme-OP im Sinne von Paragraph 6 TschG vorliegt, muss immer Sache der durchführenden Tierärztin oder des durchführenden Tierarztes bleiben, denn sie bzw. er muss dafür im rechtlichen Sinne auch den Kopf hinhalten können.
Das kann einen durchaus gelegentlich in ziemliche Gewissensnöte bringen. Alle, die unsere Praxis (und unsere Blogartikel) kennen, wissen ja, dass wir Hunde eher ungern kastrieren, wenn es dafür keine wirklich handfesten Gründe gibt. Trotzdem gab es durchaus schon Fälle, in denen wir Rüden und Hündinnen kastriert haben, weil das aufgrund ungünstiger und oft durch die Besitzer:innen zu verantwortender Umstände die einzige Alternative zur Abgabe des Tieres darstellte, so nach dem Motto: Lieber kastriert als im Tierheim! Unüberlegtheit und ein gewisses Maß an Inkompetenz von Hundehalter:innen kann also (leider!) auch eine Art sozialer Indikation für eine Kastration darstellen. Wie schnell wird eine gemischtgeschlechtliche Mehrhundehaltung begonnen, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, wie man das mit den Läufigkeiten geregelt bekommt, wenn die beiden süßen Welpen plötzlich zu Rüde und Hündin geworden sind! Wie oft wird spontan ein putziger Terrierwelpe angeschafft, um dann völlig überfordert zu sein, wenn der ab der Pubertät mit rassetypischem Temperament an jeder Ecke Ärger mit anderen Rüden sucht und findet oder bei jedem Besuch in ebenfalls typischer Beharrlichkeit das Bein der reichen Erbtante rammelt!
Natürlich drängt man als Tiermediziner:in in solchen Fällen dringend darauf, sich professionelle Hilfe in Sachen Erziehung und Verhaltensbeeinflussung zu holen. Ob das dann tatsächlich mit dem eigentlich notwendigen Einsatz und Arbeitswillen gemacht wird, entzieht sich aber unseren Kontrollmöglichkeiten, und dann steht man am Ende halt doch vor der Situation, dass man entweder kastriert oder das Tier abgegeben werden muss. Dabei dient der Eingriff als „Heilmittel“ für Defizite auf Seiten der Halter:innen, was beileibe nicht ideal und eher unschön ist, aber auch das ist eben durch den Gesetzestext durchaus abgedeckt, weil – Unüberlegtheit, mangelndes Engagement oder Unvermögen der Besitzer:innen hin oder her – die weitere Haltung des betreffenden Tieres durch die Kastration möglich gemacht wird und die denkbaren Alternativen noch viel unschöner wären.
Wie auch immer: Wir wären dankbar, wenn die (oft in anklagendem Tonfall gegenüber irgendwelchen Kolleginnen und Kollegen vorgebrachte) Behauptung, dass das Tierschutzgesetz Kastrationen nur aufgrund einer rein medizinischen Indikation zulassen würde, in Zukunft etwas weniger häufig zu lesen wäre. Sie ist halt nun mal schlicht falsch!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,
Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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