13/12/2024
Eisbärweibchen Nuka liegt weiterhin in der Halbhöhle der Außenanlage. Das ist ein gutes Zeichen, dass es dem am 2. November geborenen Eisbärnachwuchs gut geht. Zudem ist immer wieder die Stimme eines Jungtiers über ein Mikrofon zu hören. Da es immer nur eine Stimme ist, ist es höchst wahrscheinlich, dass es nur noch ein Junges ist. In die Höhle selbst können wir nicht sehen und lassen weiterhin alle Absperrungen rund um die Anlage, um Nuka mit dem Nachwuchs nicht zu stören.
Unter Lizenz dürfen wir heute einen großen Artikel (bereits online hinter der Bezahlschranke verfügbar) von Susanne Jock in den bnn.de / Badische Neueste Nachrichten auch an dieser Stelle veröffentlichen. Er liefert sehr viele Hintergrundinformationen rund um das Thema Eisbären, deren Probleme in der Natur und die Erhaltungszucht in Zoos. Wir bedanken uns für die Möglichkeit, den Artikel teilen zu können.
Auf dünnem Eis: Warum nicht nur die kleinen Karlsruher Eisbären zu kämpfen haben
Ein bisschen erinnert das Quäken an einen empörten Schrei eines Babys: Der Nachwuchs, den Eisbärin Nuka am 2. November im Karlsruher Zoo zur Welt gebracht hat, klingt nicht etwa kläglich, sondern eher fordernd. „Es ist eine kräftige Stimme“, findet der Karlsruher Zoodirektor Dr. Matthias Reinschmidt. Er geht inzwischen davon aus, dass nur noch eines der beiden Jungtiere am Leben ist.
Die Lebenszeichen liefert die Audioanlage der Kamera, die im Innengehege der Eisbärenanlage installiert ist. Bilder des Nachwuchses gibt es nicht. Bekanntlich brachte die Eisbärin ihre beiden Jungtiere in der wenig idealen Halbhöhle der kleineren Außenanlage zur Welt, statt die vorbereitete Wurfhöhle im Innengehege aufzusuchen. Als Erstgebärende fehlte ihr die Erfahrung.
Andererseits hat sie sich den Platz selbst ausgesucht. Womöglich, weil es eine Stelle ist, die möglichst weit von Eisbär Kap entfernt ist, obwohl dieser auch im Innengehege abgesperrt gewesen wäre, gibt Zoosprecher Timo Deible zu bedenken. Denn Fakt ist: Die Mütter halten ihren Nachwuchs von den Eisbärenmännern fern, weil diese Jungtiere töten.
Auch das ist einer der Gründe, warum im Freiland viele Eisbären das erste Jahr nicht überleben. „Es gibt Daten, die von bis zu 85 Prozent Sterblichkeit ausgehen“, sagt Zootierarzt Marco Roller. Wobei es aus den Eishöhlen, in denen die Mütter die ersten drei, vier Monate mit den Jungen verbringen, kaum Daten gebe, sagt der Veterinär.
Er arbeitet an wissenschaftlichen Studien über Zootiere mit und hat sich auch mit der Situation der Eisbären im Freiland beschäftigt. „Eisbärenhaltung in Zoos ist an ein hohes Maß an Expertise geknüpft – und an ein hohes Maß an Verantwortung, die man für die Tierart hat“, sagt er.
Dazu gehöre auch, die Art in ihrem natürlichen Lebensraum zu unterstützen. Der Karlsruher Zoo fördert seit diesem Jahr die Organisation Polar Bears International mit Mitteln aus dem Artenschutz-Euro, den die meisten Zoobesucher mit ihrem Eintritt bezahlen. Polar Bear International hat sich der Erforschung und dem Schutz der Eisbären im Freiland verschrieben.
Eisbären leben in Gebieten rund um den Nordpol. Ihr Lebensraum gehört zu Alaska, Kanada, Russland, dem norwegischen Spitzbergen und Grönland. Die Forschung gehen von 19 voneinander unabhängigen Populationen aus. Die Weltnaturschutzorganisation IUCN stuft die Art als gefährdet ein.
Wie viele Tiere es in der Arktis tatsächlich gibt, ist schwer zu schätzen – die IUCN Red List of Threatened Species ging zuletzt von etwa 26.000 Eisbären aus. Klar ist, dass das Schwinden des Packeises die Tiere vor große Probleme stellt.
„Für die nächsten 30, 35 Jahre gehen Wissenschaftler von einem Rückgang um 30 Prozent aus“, sagt Roller. In Teilen der Arktis wie den südlicheren Gebieten um die Hudson Bay haben längere eisfreie Jahreszeiten und damit längere Fastenzeiten für die Tiere bereits zu einem Rückgang geführt, so Polar Bear International.
Eisbären sind Lauerjäger. Sie warten an offenen Stellen im Eis, bis Ringel- oder Bartrobben hier zum Luftholen auftauchen und schlagen so ziemlich mühelos ihre Beute, erklärt Marco Roller. Ohne Eis müssen die Polarbären immer weiter wandern oder schwimmen. Wozu sie durchaus in der Lage sind, aber dabei viel Energie verlieren.
Genau diese aber fressen sie sich eigentlich vor dem Winter durch eine extrem fettreiche Nahrung an – die vor allem die Bärenmütter für die Aufzucht der Jungen in der Eishöhle benötigen. Zum einen, da sie in dieser Zeit fasten müssen, und zum andern, um die Milch für die Kleinen zu bilden. „Diese hat einen Fettgehalt von 36 Prozent“, weiß der Zootierarzt.
Um neue Nahrungsquellen zu finden, wandern Eisbären auch immer weiter nach Süden – mit fatalen Effekten: So kommt es zunehmend zu Mensch-Tier-Konflikten. Eine weitere Folge ist, so Roller, dass sich viele Eisbären – die eigentlich Einzelgänger sind – an einer Nahrungsquelle versammeln.
Um die Welt ging ein Foto mit rund 200 Polarbären an einem Walkadaver. Solche Versammlungen führen auch zur Verbreitung von Krankheiten. Und zum Tod vieler Jungbären, die die Mütter ja eigentlich von den erwachsenen Männchen fernhalten.
Eine weitere Konsequenz der erzwungenen Wanderungen weiter nach Süden sind Begegnungen mit Braunbären, die es früher nicht gab. Die nun aber Folgen haben: Es kommt zu Hybridisierung der Arten, also gemeinsamen Nachkommen. Und sie haben bereits viele Namen: Als Geister- oder auch Cappuccino-Bären sind sie verzeichnet, erklärt Marco Roller. Oder als „Grolar Bear“, wenn Grizzly und Eisbär sich paaren.
Im kanadischen Churchill an der Hudson Bay treffen Menschen und Eisbären besonders oft aufeinander.: Jedes Jahr zwischen Oktober und Dezember kommen Hunderte Eisbären dem Ort und seinen knapp 900 Einwohnern sehr nahe.
Eigentlich sind sie nur auf der Durchreise: An der Mündung des Churchill River in die Bay, wo der Ort liegt, bildet sich das Eis vergleichsweise früh, weil sich Süßwasser mit dem Salzwasser vermischt. Aber auch hier wird die eisfreie Zeit länger – und damit die Verweildauer der Bären in der Region.
Als „Eisbärenhauptstadt“ profitiert Churchill, da die Polarpetze Touristen in die abgelegene Region locken. Aber Churchill benötigt auch Ranger, die die Bären aus bestimmten Zonen fernhalten und eingreifen, wenn sie den Menschen zu nahe kommen.
Für Bären, die sich nicht vertreiben lassen, wiederholt durch den Ort streifen oder sogar in Häuser eindringen, gibt es ein Eisbärengefängnis. 30 Tage werden sie hier festgesetzt und nicht gefüttert. Schließlich sollen sie sich in der Nähe der Menschen nicht zu wohl fühlen. Und fasten müssten sie auch draußen. Danach werden sie zum Meereis transportiert – narkotisiert und per Helikopter.
Die Region Churchill an der Hudson Bay ist schon seit Jahrhunderten besiedelt – neu ist aber, dass die Menschen immer weiter in die Polarregion und damit den Lebensraum der Eisbären eindringen. Zum Abbau von Rohstoffen wie Erdgas und Erdöl vor allem.
Neben den Störungen etwa bei der Aufzucht der Jungen und den Mensch-Tier-Konflikten setzen zunehmend Umweltgifte den Tieren zu, verweist Roller auf Untersuchungen bei Orcas, die wie die Eisbären an der Spitze der Nahrungskette stehen.
Mit den Tieren aus den Zuchtprogrammen der Zoos sollen Populationen im Freiland gestützt werden, wenn es für diese eng wird. Die rund 200 Eisbären der weltweiten Zoogemeinschaft sind also eine sogenannte Reservepopulation. Die wird gezielt gemanagt, um die genetische Vielfalt zu erhalten, erklärt Florian Sicks. Der Kurator des Zoo Berlin ist Koordinator des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms für Eisbären.
„Noch sind wir bei den Eisbären nicht so weit, dass wir über Auswilderungen sprechen müssen, um den Bestand zu schützen“, sagt Roller. „Aber niemand kann sagen, ob der Zeitpunkt kommt, an dem wir die Genetik der Zootiere brauchen.“
Schon zum Stützen einzelner Populationen, die sich immer weniger austauschen, könne es irgendwann erforderlich werden, dafür vorbereitete Nachzuchten draußen anzusiedeln. Wie nun beispielsweise Luchse im Schwarzwald. „Ob es nötig wird, kann niemand sagen“, so Marco Roller. „Aber wenn wir keine Reservepopulation haben, können wir es nicht.“
Schon heute arbeiten die zoologischen Einrichtungen mit den Eisbär-Schützern im Freiland zusammen und betreiben Forschung, die im natürlichen Lebensraum nicht so einfach möglich ist, sagt Florian Sicks. „Wir kennen immer die komplette Lebensgeschichte unserer Tiere und haben alle Daten – das sind gute Vergleichswerte für die Forschung im natürlichen Lebensraum“, führt er aus. Auch werden etwa an Zootieren in San Diego GPS-Sender getestet, mit denen Polar Bear International die Wanderwege der Eisbären untersucht.
In Europa gibt es 106 Eisbären in 40 Zoos. Nicht mitgerechnet sind die russischen Zoos, mit denen es aktuell keinen Austausch gibt, sagt Sicks. In zehn deutschen Zoos leben 27 Eisbären. Die Zuchtempfehlungen geben die Koordinatoren nach genetischen Gesichtspunkten. Linien, die in der Zoopopulation noch nicht oder kaum vertreten sind, gelten als besonders wertvoll.
Grundsätzlich sei es um den Genpool aber ziemlich gut bestellt, meint Sicks. Zwar gibt es seit Jahrzehnten keine Wildfänge mehr in Zoos, durch die Mensch-Tier-Konflikte kommen aber vor allem in Russland immer wieder Eisbären in menschliche Obhut. Und geben bestenfalls als sogenannte „Gründertiere“ ihre Gene in die Zoo-Population. Niemand kann sagen, ob der Zeitpunkt kommt, an dem wir die Genetik der Zootiere brauchen.
Auch die Mutter des Karlsruher Eisbären Kap kam 1991 aus der Wildnis. Da Kap seine Gene bislang nur einmal weitergegeben hat, gab es für ihn die Zuchtempfehlung. Die Einzige in Deutschland für 2024 und eine von fünf europaweit. 2022 waren es sieben Empfehlungen, 2023 ebenfalls fünf, gibt Sicks Auskunft.
Fünf Jungtiere des Jahres 2022 haben überlebt, darunter die Hamburger Eisbärin Anouk, bislang Kaps einziger Nachwuchs. 2023 waren es europaweit drei Jungtiere. Und 2024 ist der Nachwuchs von Kap und Nuka der erste und bislang einzige in den europäischen Zoos. Aber Nuka war mit der Geburt Anfang November auch sehr früh dran, sagt Florian Sicks. Die meisten Eisbären kommen um die Jahreswende zur Welt.
Nukas Nachwuchs ist noch lange nicht über den Berg, betont der Karlsruher Zoochef Matthias Reinschmidt noch einmal. Und doch hängt an dem fordernden Quäken sehr viel mehr als die Freude über die Geburt kleiner Eisbären.
Klar sind Eisbären und ihr niedlicher Nachwuchs enorme Sympathieträger. Und ja, Eisbären sind Tiere, die viele Menschen in die Zoos locken. „Aber sie stehen auch wie kaum ein anderes Tier für die Krisen unserer Zeit: nicht nur für die Klimakrise, sondern auch für die Artenkrise“, erklärt Marco Roller. „Als Artenschutz-Zoo wollen wir dazu beitragen, dem Artensterben entgegenzuwirken.“