17/11/2024
𝗩𝗶𝗲𝗹 𝗠𝗲𝗶𝗻𝘂𝗻𝗴, 𝘄𝗲𝗻𝗶𝗴 𝗦𝘂𝗯𝘀𝘁𝗮𝗻𝘇:
𝗞𝗿𝗶𝘁𝗶𝗸 𝘇𝘂𝗺 𝗢𝗻𝗹𝗶𝗻𝗲 𝗛𝘂𝗻𝗱𝗲𝗸𝗼𝗻𝗴𝗿𝗲𝘀𝘀 – 𝗟𝗶𝘃𝗲 𝗗𝗶𝘀𝗸𝘂𝘀𝘀𝗶𝗼𝗻 „𝗚𝗲𝗹𝗮𝘀𝘀𝗲𝗻𝗵𝗲𝗶𝘁 𝘂𝗻𝗱 𝗙𝗿𝘂𝘀𝘁𝗿𝗮𝘁𝗶𝗼𝗻𝘀𝘁𝗼𝗹𝗲𝗿𝗮𝗻𝘇“
Wer den Online Hundekongress kennt, weiß, dass er mit geballtem, faktenbasiertem Wissen aufwartet. Jedes Jahr werden Expert*innen der verschiedensten Disziplinen rund um das Thema Hund angehört, die ihr wissenschaftlich basiertes Fachwissen mit uns teilen. Genau das macht seine Qualität aus und deshalb ist er so empfehlenswert.
Bei der gestrigen Live Diskussion zum Thema „Gelassenheit und Frustrationstoleranz“ konnte diese Qualität erstmals leider nicht aufrecht erhalten werden.
Ich war sehr gespannt auf die Diskussion, ging es doch eigentlich nicht nur ums Thema, sondern auch darum, Brücken zu bauen. Mit am Tisch neben Maria Rehberger und Sophie Strodtbeck, saß Maren Grote, die auch strafbasierte Methoden im Hundetraining anwendet. Der Kongress, der bisher nur eine Bühne für positives Hundetraining darstellte, öffnet nun also erstmals seine Tore für anders arbeitende Fachpersonen, mit dem Ziel, ins Gespräch zu kommen, Gräben zu überwinden und konstruktiv zu diskutieren.
Kein schlechter Gedanke, wie ich finde, ein wenig mehr Miteinander statt Gegeneinander kann gerade in schwierigen Zeiten wie diesen, nicht schaden. Meine Skepsis allerdings war hoch, denn bisher sind alle Versuche in der Vergangenheit gescheitert. Und zwar auch, weil es in der Philosophie des positiven Hundetrainings wenig Platz dafür gibt, für Strafmaßnahmen als das Mittel der Wahl zu werben. Es ist fast nur logisch, dass da am Ende meist nur wenige Gemeinsamkeiten stehenbleiben, außer vielleicht, dass wir alle unsere Tiere lieben und nur das Beste für sie wollen.
Um es gleich vorweg zu sagen: Ich ziehe meinen Hut vor den Diskussionsteilnehmerinnen und der Moderatorin, dass sie sich dieser durchaus schwierigen Situation gestellt haben. Sie haben ihre Sache auf der menschlichen Ebene sehr gut gemacht: Das Gespräch war ausgesprochen freundlich und wertschätzend. Es wurden keine Pfeile geschossen, Spitzen verteilt, es wurde nicht angeklagt, verurteilt oder in irgendeiner Form ausgeteilt. Im Gegenteil: In den meisten Punkten bis auf wenige – aber das waren die, die uns eben trennen –, waren sich alle einig und stark um Harmonie bemüht. Die kontroversen Meinungen wurden vorsichtig, sachlich, aber klar formuliert.
Aber damit kommen wir auch schon zum eigentlichen Qualitätsverlust: Es wurde sehr lange darüber philosophiert, was denn überhaupt Frustration oder Gelassenheit ist, was Frustrationstoleranz bedeuten könnte und was Impulskontrolle. „Ich glaube…“, „Ich bin der Meinung…“, „Da muss ich nochmal drüber nachdenken…“ waren vielgebrauchte Sätze in den knapp eineinhalb Stunden.
Dabei sollte man meinen, dass Begriffe aus der Naturwissenschaft bereits ausreichend definiert wurden und keinen Diskussionsbedarf mehr haben? Den Zuhörer*innen kurz und sachlich zu erläutern, was die Grundlage der Diskussion ist, ist natürlich wichtig. Aber tatsächlich hätte ich nicht damit gerechnet, dass selbst Fachleute unterschiedliche Auffassungen zu den Begrifflichkeiten haben können, so dass es leider sehr viel Meinung, aber nur sehr wenige Fakten auf allen Seiten gab. Und das ist extrem schade. Vor allem, wenn man sich vorstellt, dass potentielle 30.000 Teilnehmer*innen zugehört haben, die nicht alle Vorwissen haben und nun vielleicht falsche Schlüsse gezogen haben könnten.
So ließ sich auch im Chat, der die Nettiquette nicht so sehr beherzigte wie die professionellen Podiumsteilnehmerinnen, sehr gut verfolgen, dass es weniger um Fakten ging als vielmehr um Halbwissen, Nichtwissen und darum, welche Referentin die meisten Herzchen bekommt: Die Fan-Base der beteiligten Parteien war hoch aktiv. Aber leider hat sie dabei eben nicht bemerkt, was alles nicht angesprochen wurde:
Zum Beispiel – und das sind nur wenige Aufzählungen eines hochkomplexen Themas! –, dass Frustration Aggressionsverhalten auslösen kann, dass es konstruktives Lernen verhindert, dass ein Zusammenhang besteht zwischen einer niedrigen Frustrationstoleranz und einer geringen Fähigkeit zur Impulskontrolle und vor allem: Dass diese endlich ist! Es wurde nicht genügend herausgestellt bzw. eher heruntergespielt, dass der Alltag unserer Hunde sehr viel Frustpotential beinhaltet und dass enorm viel Impulskontrolle in allen möglichen Situationen eingefordert wird, so dass zusätzliche Impulskontrollübungen oder extra herbeigeführte frustrierende Situationen vollkommen überflüssig und schädlich sind: Wieso kann der Hund neun Hundebegegnungen super meistern, die Zehnte aber nicht? Weil, die Flasche leer ist und die Impulskontrolle vielleicht beim aufs zu lange Essen warten verbraten wurde! Dieser überaus wichtige Punkt wurde gar nicht angesprochen.
Es wurde leider auch nicht angemerkt, dass das Gehirn Glucose verbraucht, wenn es sich in Impulskontrolle üben soll. Und dass die Konzentrationsfähigkeit, die Gedächtnisbildung, das Erinnerungsvermögen sowie die Ausdauer bei frustrierenden Aufgaben massiv leidet, wenn keine mehr da ist – und das geht sehr schnell, je nach Reife und Alter des Hundes.
Ich hätte mir auch gewünscht, dass die Zuhörer*innen erfahren hätten, wie wichtig die Ernährung ist, um den Impulskontrollspeicher wieder aufzufüllen. Und das man nicht DIE Impulskontrolle üben kann, sondern sich jede einzelne Situation gesondert als Training herauspicken muss: An der Ampel warten, an lockerer Leine gehen, nicht Jagen gehen, in der Box warten, nicht Hochspringen, aufs Essen warten, Sitzen müssen, in der Bewegung eingeschränkt sein, etc. etc. Die Liste mit für Hunde frustrierende TÄGLICHE Ereignisse ist unendlich lang!
Als Quintessenz hätte herauskommen können, dass die Arbeit mit Frustration nichts anderes ist, als das Arbeiten über negative Strafe: Etwas Angenehmes zu entziehen.
Denn Frust entsteht, wenn aktiviertes Verhalten nicht ausgeübt werden kann oder eine erwartete Bedürfnisbefriedigung nicht eintritt, wenn Verstärkung ausbleibt. Frust hat evolutionär den Sinn, Lösungen für scheinbar ausweglose Situationen zu finden. Frust macht kreativ. 𝗗𝗼𝗰𝗵 𝘄𝗲𝗻𝗻 𝗙𝗿𝘂𝘀𝘁 𝘇𝘂 𝗻𝗶𝗰𝗵𝘁𝘀 𝗳ü𝗵𝗿𝘁 – 𝘄𝗶𝗲 𝘀𝗲𝗵𝗿 𝗵ä𝘂𝗳𝗶𝗴 𝗯𝗲𝗶 𝘂𝗻𝘀𝗲𝗿𝗲𝗻 𝗛𝘂𝗻𝗱𝗲𝗻, 𝘄𝗲𝗶𝗹 𝘄𝗶𝗿 𝗲𝘀 𝗻𝗶𝗰𝗵𝘁 𝘇𝘂𝗹𝗮𝘀𝘀𝗲𝗻 – 𝗱𝗮𝗻𝗻 𝗵𝗮𝘁 𝗱𝗮𝘀 𝗔𝗴𝗴𝗿𝗲𝘀𝘀𝗶𝗼𝗻𝘀𝘃𝗲𝗿𝗵𝗮𝗹𝘁𝗲𝗻 𝗼𝗱𝗲𝗿 𝗿ü𝗰𝗸𝗴𝗲𝗿𝗶𝗰𝗵𝘁𝗲𝘁𝗲 𝗔𝗴𝗴𝗿𝗲𝘀𝘀𝗶𝗼𝗻 𝘇𝘂𝗿 𝗙𝗼𝗹𝗴𝗲. Dieser wirklich nicht unerhebliche Fakt wurde nicht erwähnt. Es wurde auch nicht klar dargestellt, dass das Ganze bei selbstbelohnendem Verhalten und bei Verstärkern aus der Umwelt nicht funktionieren wird. Und das sind gesicherte Erkenntnisse aus vielen Studien!
Es hätte klarer herausgestellt werden können, dass Impulskontrolle zwar erlernbar ist, aber in Minidosen, angepasst an das Lernniveau, den Stresslevel und die Impulsivität des einzelnen Hundes. Es hätte festgehalten werden müssen, dass je weniger Frust zusätzlich im Leben des Hundes auftritt – neben den sowieso unvermeidlichen vielen alltäglichen Situationen, die allein das Fass manchmal schon zum Überlaufen bringen –, desto besser für seine Entwicklung, sein Selbstbewusstsein, seine Erwartungssicherheit, seine Fähigkeit, sich selbst zu regulieren. Und dass positive Verstärkung von erwünschtem Verhalten in per se frustrierenden Situationen das nachhaltigste Instrument ist, überhaupt Impulskontrolle und Frustrationstoleranz zu schulen, hätte unbedingt herausgestellt werden müssen.
Ich bin also echt enttäuscht von der gestrigen Expertenrunde und sehe nun auch deutlich die Gefahr, die Bühne für andere Trainingsphilosophien frei zu machen. Was haben die Menschen gestern mitgenommen? Dass 10 Minuten oder mehr den Hund „co-reguliert“ aus Frust kreischen zu lassen irgendwie ein probates Mittel sein kann, „weil er dann lernen wird, dass am Ende alles gut wird“, und er dankbar sein wird, endlich Frustrationstoleranz gelernt zu haben? Es ist gestern nicht gelungen, die Folgen solcher Methoden für den einzelnen Hund klarzustellen, die Fakten herauszuarbeiten.
𝗗𝗲𝗿 𝗻𝗼𝗿𝗺𝗮𝗹𝗲 𝗛𝘂𝗻𝗱𝗲𝗵𝗮𝗹𝘁𝗲𝗻𝗱𝗲 𝗸𝗮𝗻𝗻 𝗮𝗹𝗹 𝗱𝗮𝘀 𝗻𝗶𝗰𝗵𝘁 𝘄𝗶𝘀𝘀𝗲𝗻. 𝗘𝘀 𝗶𝘀𝘁 𝘂𝗻𝘀𝗲𝗿𝗲 𝗔𝘂𝗳𝗴𝗮𝗯𝗲 𝗮𝗹𝘀 𝗧𝗿𝗮𝗶𝗻𝗲𝗿*𝗶𝗻𝗻𝗲𝗻 𝘂𝗻𝗱 𝗩𝗲𝗿𝗵𝗮𝗹𝘁𝗲𝗻𝘀𝗯𝗲𝗿𝗮𝘁𝗲𝗿*𝗶𝗻𝗻𝗲𝗻 𝗳𝗮𝗸𝘁𝗲𝗻𝗯𝗮𝘀𝗶𝗲𝗿𝘁𝗲𝘀 𝗪𝗶𝘀𝘀𝗲𝗻 𝘇𝘂 𝘃𝗲𝗿𝗺𝗶𝘁𝘁𝗲𝗹𝗻. 𝗘𝘀 𝗴𝗲𝗵𝘁 𝘂𝗺 𝗪𝗶𝘀𝘀𝗲𝗻𝘀𝘁𝗿𝗮𝗻𝘀𝗳𝗲𝗿. 𝗡𝗶𝗰𝗵𝘁 𝘂𝗺 𝗠𝗲𝗶𝗻𝘂𝗻𝗴𝘀𝘁𝗿𝗮𝗻𝘀𝗳𝗲𝗿. 𝗗𝗮𝘀 𝗯𝗹𝗲𝗶𝗯𝘁 𝗱𝗲𝗻 𝗦𝘁𝗮𝗺𝗺𝘁𝗶𝘀𝗰𝗵𝗲𝗻 ü𝗯𝗲𝗿𝗹𝗮𝘀𝘀𝗲𝗻.