04/12/2025
Der Wolf und sein Futter
oder
warum unsere Hunde nicht mehr teilen
Endlich geht es weiter mit dem Aggressionsverhalten, und zwar mit einem Thema, das jeder Hundehalter kennt, der Verteidigung von Ressourcen hier der sogenannten „Futteraggression“.
Ressourcenverteidigendes Verhalten gehört neben der Leinenaggression definitiv zum meist genannten Problemverhalten, dabei handelt es sich biologisch gesehen um vollkommen normales arteigenes Schutzverhalten, Hunde verteidigen Dinge, die das eigene Leben sichern. Punkt.
Um dieser Problematik und dem richtigen Training auf den Grund gehen zu können, müssen wir uns nur etwas genauer mit unserem Augustin befassen, denn sein berühmter Satz: „Möchtest du den Hund verstehen, musst du den Wolf fragen!“ ist im Kontext einer Futteraggression ganz besonders hilfreich.
Dass das Verteidigen von Futter - auf andere Ressourcenthemen werden wir gesondert eingehen, da sie sich eklatant unterscheiden können - ein normales Verhalten ist, haben wir ja schon erwähnt, denn es sichert dem Hund das Überleben. Futter gehört aus evolutionärer Sicht zur wichtigsten Ressource.
Wenn wir uns also einmal frei lebende Hunde anschauen, wird klar: wer sein Futter nicht schützt, verliert es. Es stellt somit ein angepasstes Verhalten dar. Das gilt beispielsweise auch in extremer Form für Shelter-Hunde, die in hoher Anzahl auf wenigen Quadratmetern mit knappem Futterangebot eingesperrt sind. Das eigene Überleben kann nur gesichert werden, indem Futter beansprucht und verteidigt wird.
Nun unterscheiden sich Hunde aber in einem Punkt extrem von Wölfen, denn sie zeigen ein antisoziales Ressourcenverhalten, wohingegen der Wolf ein prosoziales Verhalten zeigt.
Das führt beispielsweise auch zu dem häufigen Phänomen, dass Hunde, die Teil einer größeren Gruppe sind, vereinzelt stark abmagern, obwohl reichlich Trockenfutter angeboten wird - ranghöhere, oft sozial expansivere Tiere beanspruchen die Ressource allein für sich.
Bei Wölfen wäre das selbst in Gefangenschaft eher unwahrscheinlich - auch wenn es hier vermehrt zu Auseinandersetzungen, auch mit Beschädigung kommt.
Ob unsere „lieben“ Hunde sich nun aber wirklich „aggressiver“ als Wölfe verhalten, das wollen wir heute klären, dafür müssen wir uns den (verhaltens)biologischen Hintergrund beider Tiere näher anschauen.
Die Biologie hinterm Rudel:
Beim Wolf sichert die Familie das Überleben, das Futterteilen ist also nicht ein „freiwilliges Teilen“ im menschlichen Sinne, sondern ein hochstrukturiertes, reguliertes Sozialverhalten.
Familienmitglieder werden beim Fressen toleriert, denn Konflikte und Hunger schwächen die Gemeinschaft. Das Füttern von Wolfswelpen und auch älteren oder kranken Tieren geschieht aus biologischen Pflichten.
Fun Fakt:
bei der glücklicherweise widerlegten Dominanztheorie wurden genau solche Beobachtungen missverstanden, denn beim ausgeprägten Knurren, Drohen, Fixieren, Schnappen an der Beute beziehungsweise beim Fressen handelt es sich um hochritualisiertes Verhalten - und NICHT um ernste Auseinandersetzungen.
Also: Rituale statt Gewalt!
Wenn wir uns jetzt den Hund anschauen, stellen wir schnell fest, dass dieser nicht mehr auf seine arteigene Familie angewiesen ist, denn er hat den Menschen, der ihn füttert. Seine Nahrung kommt schon lange nicht mehr aus gemeinsam erbeuteten Ressourcen - die Domestikation hat selbst aus Straßenhunden Tiere gemacht, die auf menschliche Hilfe angewiesen sind.
Dazu kommt, dass es bei Hunden keine (kaum) stabile Sozialstrukturen mehr wie beim Wolf gibt:
wenn mehrere Tiere zusammen gehalten werden (zum Beispiel in ausländischen Sheltern) dann sind diese zusammengewürfelte fremde Tiere.
Der Hund ist also auf der einen Seite nicht mehr abhängig vom Artgenossen um sein Überleben zu sichern, also „mehr auf sich gestellt“, dafür aber gleichzeitig auf den Menschen angewiesen.
Müsste er das denn nicht wissen, und Futter mit uns Menschen teilen?
Das ist ein großes Missverständnis, denn die Domestikation hat unsere Hunde zwar abhängiger, aber gleichzeitig auch individualistischer gemacht. Das heißt, Hunde denken nicht „ich bekomme mein Futter vom Menschen und teile daher mit diesem“, sondern verhalten sich evolutionsbiologisch, also „das große Stück Pansen gehört mir, das wird gesichert und verteidigt, um das eigene Überleben zu sichern“.
Ein Hund ist einfach nicht mehr gezwungen so kooperativ wie der Wolf zu sein.
Diese biologischen Hintergründe verdeutlichen uns jetzt, warum Hunde ganz natürlich ihr Futter verteidigen, und warum es nur einen einzigen Grund gibt, warum sie das uns gegenüber NICHT tun:
Wenn sie verstehen und darauf vertrauen, dass wir KEINE Konkurrenz sind.
Also, diese typischen Trainertipps, sowohl von der „positiven“ als auch der „aversiven“ Seite, haben überhaupt keinen biologischen Sinn, und sind deshalb kontraproduktiv.
Schauen wir uns die Methoden doch mal an:
1. Futter wegnehmen üben, weil „du der Chef bist“
Blödsinn. Denn genau so funktioniert es weder beim Wolf noch beim Hund, das Teilen von Futter hat nichts mit Macht zu tun. Wenn wir beobachten, wie Augustin gefangene Beute (Wühlmäuse) mit den jüngsten „teilt“, ihnen zeigt, wie sie die Maus erst fangen und anschließend fressen sollen, wird ganz klar deutlich, es geht um Familie nicht um Macht!
Auch bei unseren eher antisozialen Hunden geht es nicht um Macht oder Dominanz, sondern um flexible Rangordnung. Als Sozialpartner gehören wir hier definitiv mit dazu!
Wichtig:
dieses Training MACHT deinen Hund erst richtig „futteraggressiv“ denn er muss seine überlebenswichtige Nahrung sogar vor dem Menschen schützen, der, obwohl er vielleicht sogar deutlich knurrt, diese trotzdem wegnimmt!
Und es verdeutlicht deinem Hund, dass du seine Sprache weder verstehst noch berücksichtigst!
Wie Hunde besonders schön futteraggressiv werden, haben wir hier schon mal erklärt, schaut mal hier: Nr.5
2. Lass deinen Hund beim Fressen bloß immer schön in Ruh
Das ist kein Training, eher ziemlich viel Vermenschlichung. Denn, wenn wir beobachten wie unsere Hunde zufrieden ihre Knochen kauen, indem sie teilweise auf- dicht - und übereinander liegen, wird klar: nicht das Berühren stört, sondern die Unsicherheit Futter nicht behalten zu können.
Daher, dein Hund wird nicht freundlicher, wenn du ihn immer schön in Ruhe lässt, das ist typisch menschliches Denken à la „er ist dankbar, weil ich ihn in Ruhe fressen lasse“
Nein!
Training an der Ressource funktioniert nicht über „Dankbarkeit“, sondern über Sicherheit!
Das „In-Ruhe-Lassen“ reduziert zwar die Notwendigkeit zu verteidigen und schafft Sicherheit, aber ein Verteidigen werden solch „trainierte“ Hunde definitiv trotzdem zeigen, wenn zum Beispiel ein Kind doch zu dicht am Hund vorbeiläuft. Und bei etwa 83 Millionen Menschen ist die Wahrscheinlichkeit dass genau das passiert, schon relativ groß oder?
Da diesem Training zusätzlich noch die wichtigste Grundlage fehlt - familiäre Sozialstruktur: Anleitung, Führung, Sicherheit - funktioniert sie einfach nicht. Die Hunde werden allein gelassen und gleichzeitig in eine hohe Rollenposition gedrängt.
Denkt hier nämlich auch wieder an den Unterschied zwischen Wolf und Hund - daran, dass Hunde antisozial im Ressourcenverhalten sind, das heißt, dieses Training feuert das ohnehin schon intrinsisch motivierte Verhalten noch richtig schön an.
Daher, stimmt eure Rollenverteilung in eurem Sozialverband, und weiß dein Hund somit, dass du keine Konkurrenz, sondern Sicherheit bedeutest, ist das Wegnehmen von Futter für ihn völlig selbstverständlich, und vor allem:
Stress frei!
Dann gibt es ja noch Variante 3, und warum diese gar keinen Sinn macht, erzählen wir jetzt:
Jaaah, wir meinen das berühmte Tauschen!
Aus verhaltensbiologischer Sicht macht diese Methode für unsere Hunde sogar am wenigsten Sinn.
Denn dein Hund lernt dennoch:
Der Mensch will was von mir - nimmt mein Futter weg!
Das ist ein typisches Konkurrenzverhalten und trainiert teilweise sogar gerade das Ressourcenverteidigen.
Mit Vertrauensaufbau hat diese Art Training nichts zu tun.
Und erst recht nicht mit Sicherheitslernen.
Wann und warum wir sie zusätzlich zum weiteren Training einsetzen, zeigen wir euch aber mal in einem Clip!
Ihr seht, die einzig effektive Methode ist die, die wir hier im Laufe der Jahre mit (und dank) der vielen tausend futteraggressiven Hunden getestet und weiterentwickelt haben, und zwar:
das Neutralisieren des Konkurrenzverhaltens.
Zusätzlich müssen wir uns hier aber auch die ursprüngliche Familien/Sozialstruktur von Wolf und Hund zu nutze machen, denn nur so erhalten wir eine Toleranz die auf Bindung beruht.
Daher: den Wolf zu verstehen, hilft den Hund zu verstehen - da hat Augustin vollkommen recht.
Und dieses Verständnis führt dazu, dass wir Augustin selbst beim Knochen - und Fleischfressen berühren - und ihm notfalls (zum Beispiel beim Verschlucken) helfen können.
Einige kleine „Trainings-Geheimnisse“ behalten wir jetzt aber noch für uns - schließlich können wir hier nicht alles verraten. 😉
Nachdem wir uns die verhaltensbiologischen Grundlagen angesehen und verstanden haben, dass ein Verteidigend von Nahrung zum normalen Verhalten gehört, müssen wir uns jetzt aber noch einer ganz entscheidenden Frage widmen:
ab wann ist „Futteraggression“ ein Problemverhalten ?
Hier kommen wir nämlich zum Kern des Geschehens, also zu dem Verhalten, das für Menschen störend empfunden oder gar gefährlich wird.
Vorher aber nochmal zusammen gefasst:
Ressourcenverteidigung ist biologisch NORMAL.
Es hat weder mit Dominanz, noch Fehlverhalten, noch mit Erziehungsfehlern zu tun!
Ein Hund darf knurren, sichern, fixieren, abschirmen - Das ist Kommunikation, also kommunikatives Verhalten.
Strafen wir dafür - verstärkt sich die Kommunikation, und wird sich - wenn wir von den regulären ausgehen - zum Aggressionsverhalten steigern.
Das müssen wir uns schon mal merken, für die Frage „wie sorge ich vor“, also wie verhindere ich ein übertriebenes/unverhältnismäßiges Verteidigen von Futter.
Denn, das „Problemverhalten“ fängt dann an, wenn das Verteidigen unverhältnismäßig gezeigt wird.
Zum Beispiel:
Ein sofortiger Angriff ohne Warnung - Eskalationsstufen!
Massives Schnappen bei minimaler Annäherung.
Übersprungsverhalten (aus tiefer Unsicherheit).
Übertrieben gerichtete Botschaft - Rüde Matti (Clips folgen!).
Diese Punkte gelten sowohl für offensives als auch defensives Aggressionsverhalten, denn in diesem Kontext wird ein unsicherer Hund, der Futter verteidigt nicht weniger verteidigungsbereit, sondern sogar mehr. Zusätzlich müssen wir hier unbedingt auch die sogenannten Mischausdrücke berücksichtigen - also der innere Konflikt eines Hundes aus Selbstschutz, Verteidigung und ggf. zuvor stattgefundener Strafe beim Knurren.
Lest dazu auch hier:
Problematisch wird es auch immer, wenn der Hund das Verhalten generalisiert, also nicht nur Futter verteidigt, sondern auch Spielzeug, Liegeplätze, Möbel, Räume, Artgenossen, Personen, Wasser und so weiter. Ein solches Verhalten kann sich ins Unermessliche steigern, denn ein Hund kann ALLES als Ressource ansehen - es handelt sich um extremen Ressourcen-Stress, und hat häufig die Ursache in der „positiven Trainingsmethode“ - „lass den Hund beim Fressen/Schlafen schön in Ruh“ …
Wenn ressourcenverteidigendes Verhalten zum Sicherheitsproblem wird, leiden nicht nur die Hundehalter, also die gesamte Familie, inklusive weiterer Hunde, sondern auch der „aggressive“ Hund selbst unter enormen Stress.
Falls es unter den Hunden in einem Haushalt sogar zu blutigen Auseinandersetzungen kommt, wird klar, dass hier soziale Konflikte bestehen, die dringend Management und Training benötigen.
Wie extrem Hunde ihr Futter verteidigen können, und wie unterschiedlich ihre Beweggründe sind, möchten wir euch mit einigen Beispiel-Clips aufzeigen - Clips z.B. von Jurek, der durch seine Vergangenheit eine schwere Form eines Futterdeprivation-Schadens hat, also an einer tief sitzenden Verhaltensveränderung leidet, oder von Matti, der sich trotz der positiven Aufzucht in Deutschland, stets für den unverhältnismäßigen Angriff entscheidet, aber auch von „Normalverhalten“, beispielsweise wie wunderbar unsere Hunde sich untereinander eine (natürliche) Frustrationstoleranz beibringen.
Augustin hat wirklich recht - Wissen ist einfach Macht:
wer versteht, warum sein Hund Futter schützt, kann ihm die Sicherheit geben, die er braucht.
Mehr zum Thema Aggressionsverhalten gibts hier, schaut aber auch gerne schon mal unter: