19/07/2024
Dem springt nen Draht aus der Mütze
Mein Hund kratzt sich, obwohl er frisch geduscht ist.
Tja, er kann sich auch kratzen, weil er geduscht worden ist und eine Reaktion auf das Mittel zeigt. Kann sein, muss aber nicht.
Kratzen hat auch eine kommunikative Komponente.
Es geht um Übersprungsverhalten.
Übba ne Hürde, odda was?
Irgendwie schon, obwohl es eher eine innere Hürde ist.
Wann werden nun Übersprungshandlungen gezeigt?
Wozu dienen sie und wie kann ich sie für mich, als Legislative, nutzen?
Ein klassischer Hinweis für den Extrahopser im Verhalten ist, daß die Handlung nicht zur Situation passend ist. Man feiert eine runden Geburtstag, das Haus ist voll. Überall sind kleine Bistrotische zum Sektempfang aufgebaut. Der Jubilar hat geladen und Sippe, Kollegen und Sozialschmarotzer treffen sich im sonst so ruhigem Haus. Alles ist anders, besonders für Schnuffi. Der kriegt die Situation nicht zwangsläufig gewechselt, nur weil er die meisten Gäste kennt. Wieso kommen die alle auf einen Schlag… haben die kein Zuhause?
Da will man sich am Halter orientieren, aber der ist die ganze Zeit am Labern. Warum guckt der mich nicht mal an? Ich weiß garnicht, was los ist. So steht er vor der Person seines Vertrauens, adressiert sie wiederholt und bekommt keine Antwort. Die Aufregung steigt, ebenso wie ein wenig Unsicherheit und Unwohlsein. Da wird erstmal fett gegähnt. Eine 1a-Stressreaktion in diesem Fall. In dem Moment guckt der Halter und vermutet jedoch, daß der Hund müde ist.
Die gesteigerte Erregungslage des Hundes kollidiert mit der eher drückenden Handlungsbereitschaft. Wie soll man in diesem unüberschaubaren Haufen alle beobachten, dann dudelt im Hintergrund die ganze Zeit Musik, die Menschen haben sich künstlich und derbe eingemöfkert, die Weibchen laufen auf laut schallenden Stangenschuhen, alle essen mit der Hand und laufen dabei rum…
Der Hund ist definitiv im Stress, denn sein bisher erlebtes Zuhause ist zum Wanderzirkus mutiert. Er ist verunsichert, denn alles ist anders als sonst. Schon wieder ein Luftballon geplatzt. Auf der einen Seite ist das alles total aufregend und spannend, auf noch einer anderen Seite…wäre es schön, wenn das Remmidemmi vorbei wäre und alles wieder in normalen Bahnen laufen würde.
Wuffi befindet sich in einem Konflikt, den er selber nicht lösen kann. Gut, er könnte durchdrehen, alle Gäste in eine Ecke treiben und die Meute zum Schweigen bringen. Dann wäre zumindest der Geräuschpegel ein anderer. Der Chef findet das bestimmt nicht toll.
So findet es der Hund nicht toll und kommt aus der Situation auch nicht allein raus.
Das kann nicht nur bei Anlässen geschehen, die außergewöhnlich sind. Auch im Alltag ist schnell eine Situation kreiert, die den Hund überfordert. Er ist dann zwischen zwei widersprüchlichen Handlungen hin und her gerissen. Versucht die Handlungen unter einen Hut zu kriegen, was nicht funktioniert. Dann rettet er sich in eine Übersprungshandlung, die von ihrer Erscheinung nicht zum Kontext zu passen scheint.
Man hat einen Tag gehabt, der vor der zweiten Tasse Kaffee schon fürs Klo war. Und nun auch noch mit dem Hund raus, weil keiner von der familiären Bagage bereit war bei Regen das Tier zu entleeren. Hundi ist keine Schönwettermieze und freut sich jenseits klimatischer Variationen auf draußen. Alles erledigt, der Abruf kommt. Mal ein wenig gegen den Wind gerufen, die Schallwellen erreiche das Hundeohr nicht. Jetzt hab ich die Faxen dicke. Brülle wie ein Gehirnamputierter das KOMM. Und was macht der Undankbare? Schnüffelt noch eine Runde und schüttelt sich ausgiebig! Ich glaub, es hackt!!
Der Hund interpretiert den abgelieferten Abruf anders als der jähzornige Berufstätige. Auf der einen Seite wird er über das Signalwort KOMM gerufen. Auf der anderen Seite steht das laute, böse Gebrüll des Halters. Das suggeriert, wenn ich da hingehe, kommt der Kopf ab. Und so tanzt die Wahrnehmung auf zwei Hochzeiten. Selbstschutz, denn Brüllen ist eher drohend denn einladend. Mangelnde Umsetzung der Handlungsempfehlung des direkten Vorgesetzten, weil das KOMM vom Hund nicht ausgeführt wird.
Da Übersprungshandlungen verdammig kurz und reflexartig sind, muss man als Mensch ein Auge dafür haben, um sie erkennen zu können. Sonst sieht es eben nur aus, als ob der Köter was anderes macht und nur nicht gehorcht. Es macht Sinn, das ganze Display zu erfassen und dann sich selbst zu Fragen, warum er was macht…oder auch nicht. Übersprungshandlungen passen nie zur aktuellen Situation und reflektieren das Hadern zwischen zwei Instinkten. Es muss nicht immer der Biss sein, wenn man in die Ecke gedrängt wird. Manche fressen Gras, andere zerstören oder zeigen Verhalten aus dem Bereich Fortpflanzung (rammeln einen dann den Mariannengraben aufs Schienenbein) oder Körperpflege (herzlich willkommen zum übersteuerten Lecken).
Die Reizschwelle solch einer Handlung ist limbomäßig niedrig und ist direkt mit der emotionalen und sozialen Kompetenz des Hundes verbunden. Das Zeigen solcher Signale dient aktiv der Kommunikation.
Was soll der Hund auch machen, ´nen Schild schreiben?
Wenn ich solche Signale als Übersprungshandlung erkenne, muss ich als verantwortungsvoller Halter eruieren, warum diese gezeigt werden.
Und das eigene Handeln oder die gegeben Situation auswerten.
Zeigt der Hund Sachen wie zum Beispiel: über die Schnauze lecken, gähnen, kratzen und lecken an vorher unauffälligen Stellen, Kopfschütteln, kreisen, schnappen, weggucken, die Rute jagen…sind das Handlungen, die immer einen zweiten bis dritten Blick erfordern.
Wenn man die Anzeichen erkennt und auswertet, kann man so den kleinen Kumpel vor weiterem Ungemach bewahren.
Und unnötige Ausreißer ersparen, wenn man demnächst vorausschauend auf genau die Dinge achtet, die vorher den Untertan in den Wahnsinn getrieben haben.
Silvia Dober