14/10/2024
Kleiner Hund
Es war einmal ein kleiner Hund, der das ganze Leben noch vor sich hatte.
Mit viel zu wenig Wochen kam er zu einem noch weniger interessierten Menschen, dessen Haushaltshilfe am wenigsten für ihn übrig hatte.
Der kleine Hund wurde viel zu wenig geliebt und lediglich zur eigenen Bespaßung verwahrt.
Mit nem Rollstuhl übergemüllert, mit Haushaltsgegenständen diszipliniert und immer wieder an der Heizung fest gemacht und dort vergessen.
Oder mit Gegenständen darauf hingewiesen, daß er den Platz an der Heizung verdient hat. Das macht was, mit einem kleinen Welpen.
Das würde es mit jedem von uns.
Aber: nichts Gutes.
Irgendwann hat der kleine Hund festgestellt, ich bin gar nicht mehr so klein.
Oder so hilflos.
Ui, ich bin ein Tibet Mastiff….!
Der wehrfähige Hund stellte fest, daß es in seinem Leben eine Option gab.
Als er Selbiges zu verteidigen begann, wurde es noch schlimmer für ihn. Danach wurde er konfisziert. Ein verantwortungsvoller Mensch meldete die desasteröse Haltung.
Nun sollte es hoffentlich… endlich… besser werden, vom schrecklichen Halter weg.
Der gequälte Hund war nun zwei Jahre alt.
Aber es wurde nicht besser, nur anders. Die Gewalt fiel weg, dafür kam nun die Einsamkeit.
Der heimatlose Hund kam ins Tierheim.
Dort musste er nicht um sein Leben bangen und eine Art von Routine gab ihm etwas Struktur.
Ein Jahr Einzelhaft später sahen zwei Menschen den riesigen, unsozialisierten Hund mit Beißvorfällen in der Historie.
Sie verliebten sich in ihn.
Nach einigen Besuchen war schnell klar: der sicherungsverwahrte Hund sollte ein Familienmitglied werden. Sie ließen sich nicht davon abschrecken, daß er wie ein Staatsfeind behandelt wurde. Sobald er seinen Zwinger verlassen sollte, waren die Gänge leer, kein Hund oder Pfleger war zu sehen, wer eine Tür versehentlich aufmachte und den Hund sah, zog sich sofort panisch zurück.
Es war, als ob ein aussätziger Killer über den Flur kam.
Das Paar ließ sich nicht davon abschrecken. Sie wussten nur, daß er ein Beisser war, der ein Zuhause braucht.
Der vereinsamte Hund zog bei der Familie ein und machte sich recht gut mit den anderen Hunden. Vorsichtig begann ein neues Leben. Aber, in einem emotionalen Kriegsgebiet aufgewachsen, schleppt man Altlasten mit sich rum. Wenn man gelernt hat, daß nur die eigenen Zähne einen retten, …am Leben halten, dann vergisst man das nicht so schnell.
Die neuen Halter wussten das und kalkulierten Pflaster ein. Viel Pflaster. Und Mullbinden. Und Desinfektionsmittel. Und Pflaster.
Es schreckte sie nicht ab und sie nahmen ihm die Flashbacks nicht übel, gaben ihm Raum, Verständnis und Liebe. Und Essen… und all die anderen Dinge, die verrückterweise selbstverständlich sein sollten, es bis dahin in seinem Leben jedoch nicht waren.
Da kam der Tag, an dem ein Mitglied des Bestandsrudels verstarb.
Ab diesem Tag wollte der gehandicapte Hund keine Pfote mehr in das Haus setzen.
Und nu?
Die Halter bauten ihm einen 65qm Gehege mit allem Schnickschnack inklusive Überwachung, Heizung, Hütte, Badezimmer und Barfußpark. Von nun an spielte sich das Leben der Menschen überwiegend draußen ab, damit das Problemfell Familienanschluss hat. Man konnte mit dem nervlichen Wrack zwar gut spazieren gehen (wenn es erstmal angeleint war), doch sobald man auf dem heimischen Gelände wieder ankam, wollte der Kummerhund in seinen Zwinger. Das riesige Grundstück… kann man sich auch von innen nach außen angucken.
Dann ist die Überforderung auch nicht so groß.
Es war schwierig an seinen Körper zu kommen, auch was die Pflege betraf…ein Do Khyi hat echt vieeeel Fell. Dazu hatte der Beisser Augenprobleme, Skelettprobleme, muskuläre Defizite und allerlei andere Malessen… und gelernt, den Tierarzt mit dem Maulkorb bis zur Platzwunde zu vermöbeln.
Es kamen Hundefachmenschen, die gerufen wurden, um den gefährlichen Hund ins Haus zurück zu holen. Am Ende war der professionelle Konsens: wenn´s die Halter nicht stören würde, kann er im Zwinger bleiben.
Aber, ist das ein Leben?
Neuer Versuch.
So fuhr ich eines Tages bei dem gefährlichen Exilhund auf den Hof.
Der aufgeregte Mann nahm mich in Empfang. Auf dem Weg zum Haus kamen wir am Zwinger vorbei.
Der skeptische Hund kam zum Gitter, guckte mich an und setzte sich hin. Observierte. Ich war einige Meter entfernt und sprach ihn leise an. Während der Halter den Blinker schon links hatte, weil man ja weiß, was alles geschieht. Ich konzentrierte ich mich auf den Gefährlichen.
Den musste ich ich allerdings suchen.
Ich sah einen kleinen Hasen in Angst.
Einen traurigen, unsicheren Hund, mit der Stabilität einer Pusteblume.
Ein neugieriges Wehrkaninchen.
Wir hielten beide die Position und die Stimmung.
Dann lehnte ich mich nur mit dem Oberkörper ein wenig in seine Richtung und Hundis Fi-Schalter kippte zuverlässig.
Im Bruchteil einer Sekunde auf den Hinterläufen brüllte er mich von oben mit blitzenden Zähnen an.
Das war keine Finte, das war bitterer Ernst. Zumindest für ihn, denn er wusste offensichtlich nicht, daß ich nicht durch die Armierungsmatten flutschen kann.
Speichel blubberte um seinen Fang. Er zitterte vor Adrenalin.
Ich lehnte mich wieder raus, er plumpste auf alle Viere und ich lobte ihn.
Jetzt kann man sagen, was soll der Mist?
Muss ich den Hund so stressen?
Wenn ich nicht weiß, was der Stand der Dinge ist, kann ich damit auch nicht arbeiten.
Und einmal mehr abdrehen und alles abspulen, was nur irgendwie geht… spielt nach vier Jahren auch keine Rolle mehr.
Ohne status quo, keine Therapie.
Nach einem zeit- und emotionsintensivem Gespräch ging es wieder raus an den Zwinger.
Die Halter waren in etwas Entfernung als Zuschauer geparkt, damit ich mich dem kleinen Hund in seiner Eigenschutz-Rüstung nähren konnte.
Nach einer guten halben Stunde war ich von 15m auf 1m an das Gitter rangekörperspracht, ohne, daß der Angsthase seine Waffe zücken musste.
Er zeigte Unmut, ich nahm diesen wahr und reagierte. Sein Unmut simmerte wieder, statt zu lodern, ich lobte ihn dafür und kam wieder ein paar Zentimeter näher.
Die ganze Zeit bekamen die Halter erklärt, was geschieht, was ich mache, was der Hase macht…
Ich belohnte jede Äußerung seinerseits, denn das ist, was ihm brutal als Welpe abtrainiert worden ist.
Bei mir darf man sich nicht nur mitteilen, ich wünsche es mir sogar.
Und, wenn ein Hund mich zum Kotzen findet, dann will ich das genauso erfahren.
Egal welche Emotion, hauptsache ehrlich. Ehrlich können Hunde am besten.
Nur mit Dingen, die ich weiß, kann ich arbeiten.
Mit Glaskugeln habe ich keinen Vertrag.
Beim zweiten Termin haben wir die Körpersprache der Halter aufpoliert, beim Dritten ging es an die Futteraggression. Seine Mahlzeiten wurden bis dato über Schieber geregelt, weil die Halter evolutionsbedingt auch an ihrem Leben hängen.
Dann kam das Anleinen und Zwinger verlassen.
Beim letzten Mal ging dann emotional für die Halter der Punk ab… der kleine Hund lernt nun einen Abruf.
Das ließt sich nicht so wild, ist es aber.
Eine Handlungsempfehlung der Halter kann von ihm beantwortet und umgesetzt werden, muss aber nicht.
Er hat endlich eine Wahl und merkt, daß er Einfluss nehmen kann.
Das Einflussnehmen gab es zwar vorher auch schon… „wenn du kommst, verpasse ich dir Belüftungsschlitze…“, aber hier geht es nicht mehr täglich ums Überleben.
Ab hier beginnt Leben.
Wenn er kommt, is gut. Wenn nicht, dann nicht. In beiden Fällen hat seine Handlung eine Konsequenz, die er beeinflussen kann. Es geht nicht mehr um Selbstverteidigung, sondern um Selbstwirksamkeit.
Und, wenn ich nicht so will, wie der Halter, werde ich trotzdem nicht geschlagen.
Für verantwortungsvolle Menschen eine ethische Selbstverständlichkeit, für ein Opfer eine Offenbarung.
Der ängstliche Hund ist ein mutigerer Hund geworden, der immer noch vor Defiziten strotzt.
Der gefährliche Hund wird diese Eigenschaft nie ablegen, denn er musste es immer sein, um sein Leben zu verteidigen. Das vergisst er nicht. Würden wir auch nicht.
Der bewusste Hund stellt jedoch langsam fest, daß er von diesen Grenzerfahrungen kaum mehr welche machen muss. Zumindest vorsätzliche nicht.
Vor kurzem hat ihn ein Igel in seinem Zuhause überfallen und er ist durchgedreht. Dürfte klar sein, das es der Igel nicht gepackt hat. Nun ist an seiner Finca eine Igelbremse installiert.
Das Wehrkaninchen erschreckt sich nicht zu Tode und Eindringling isses am Ende nicht.
Der reaktive Hund bekommt einen Ahnung davon, wie es sein wird, wenn er seine Waffen endlich einmotten kann.
Zufällige Grenzerfahrungen bleiben, denn das ist das Leben.
Und, wenn es schlimm wird, sind die neuen Halter an seiner Seite.
Durch seine Menschen bekommt er zu gefährlich, böse, einsam, gequält, traurig …auch neue Attribute.
Jetzt wird es ein geknuddelter (wenn auch noch seeeehr vorsichtig), umsorgter, neugierigererererer, satter, kooperierender… ein lächelnder Hund.
Sie lassen ihn nicht allein. Sie zeigen ihm, daß Schlimmes passiert, er da aber nicht allein durch muss und jemand an seiner Seite ist, der ihm seine Schlachten abnimmt.
Der kleine Hund gewöhnt sich an Liebe, Aufmerksamkeit, Futter, Respekt und Fürsorge.
Die Angst wird weniger. Die Wahrnehmung nimmt zu.
Man hat ein Leben, wenn man sich selbst bemerkt.
Aus dem ehemaligen Unterhaltungsartikel wächst ein ICH.
Der kleine Hund merkt jetzt, daß aus ihm ein großer Hund werden kann.
Sein Herz ist kein verängstigter Einzelkämpfer mehr und pumpt sich tapfer seinem neuen Leben entgegen.
Von nun an gibt es für ihn ein ICH in einem WIR.
So wird aus „lebenslänglich“ keine Haftstrafe, sondern ein ersehntes Versprechen.
Silvia Dober