27/07/2024
Ein wahrer Text…
Das moderne Pferd: Was läuft schief?
Wir betreiben seit über 30 Jahren einen Ausbildungs- und Rehabilitationsbetrieb. Viele der über 7000 Pferde, die wir betreut haben, hätten den Traum der Piaffe erfüllen sollen, waren stattdessen aber bereits in jungen Jahren «austherapiert», am Ende ihrer körperlichen und mentalen Kräfte, mit medizinischen Befunden und psychischen Traumata belastet. Wir stellen uns der drängenden Frage: Ist das Wissen der Alten Meister heute noch relevant?
Nie zuvor in der Geschichte der Reiterei hat die Zucht hochwertigere Bewegungskünstler hervorgebracht: Pferde mit athletischen Körpern, ausgezeichneter Rittigkeit und einer herausragenden Einstellung. Doch die Zucht hat ihren Zenit bereits überschritten. Zunehmend schwache Bindegewebsstrukuren und Hypermobilität belasten die Pferde nahezu aller Rassen gesundheitlich nicht selten bereits in den ersten Jahren als Reitpferd. Diese zuchtbedingten Instabilitäten stellen in Kombination mit einer enormen Schubkraft eine eigentliche «Sollbruchstelle» des modernen Pferdes dar. Gelingt es hier nicht von Anfang an, das Pferd zur Tragfähigkeit auszubilden, wird es an seiner Aufgabe als Reitpferd zerbrechen.
Das moderne Pferd ist mit seinen eigenen Bewegungen und der zusätzlichen Belastung durch den Reiter schlicht überfordert und sucht instinktiv nach Strategien, um sich buchstäblich auf den Beinen halten zu können. Es verspannt sich, baut Kompensationsmuskulatur auf und wird bald steif im ganzen Körper. Diese verspannte und kompensatorische Muskulatur gibt dem Pferd zwar Halt, erschwert aber eine physiologisch funktionelle Bewegung. Das Potenzial des Pferdes bleibt auf der Strecke, es entwickeln sich unerklärliches Stressverhalten und Unwilligkeit. Damit verbunden treten bereits die ersten Vorboten von gesundheitlichen Problemen in Erscheinung: Taktunreinheiten, Lahmheiten und Stoffwechselprobleme.
Therapeuten und Tierärzte treffen auf immer wieder dieselben Muster und Befunde, die sich langfristig jedoch nicht behandeln lassen und erneut auftreten. «Weshalb müssen wir so viele Medikamente in so viele Gelenke spritzen, damit diese Pferde weiterhin gehen können?», fragte einst der Begründer der renommierten Vereinigung für Sportpferdemedizin in den USA Dr. med. vet. Kerry Ridgway. Als Tierarzt und Chiropraktiker setzte er sich zeitlebens für das Wohlergehen der Pferde ein und suchte nach alternativen Trainings- und Therapieansätzen. Auch er musste in seiner Praxis feststellen, dass es vielfach nur mit aufwendigem therapeutischem Management gelingt, Pferde bis in die höchsten Lektionen zu reiten. Trotz enormer Veranlagung und riesigem Talent scheitert ein Großteil der Pferde bereits in den ersten Jahren der Ausbildung oder kommt nie über A-Niveau hinaus. Der Traum vieler Reiterinnen, einmal eine Piaffe zu reiten, zerbricht an schleichenden gesundheitlichen Problemen oder in scheinbarer Ermangelung des Potenzials des Pferdes. Was also läuft schief in der modernen Reiterei?
Die Wissenschaft befasst sich mit Messungen von Kräften, Belastungsgrenzen und Funktionen der Pferdekörper, um dem Verschleiß auf die Spur zu kommen. Doch damit ist das Problem nicht gelöst. Vor uns steht ein neuer Pferdtypus, geprägt von Hypermobilität und einer enormen Schubkraft der Hinterhand – und dies betrifft nicht nur den Warmblüter, sondern auch ehemals robuste Pferde wie Iberer, Isländer oder Quarterhorses. Es ist die Praxis der Ausbildung, die sich anpassen muss. Aber weder die heute oft angewandte «Ausbildung auf der Überholspur», bei der die Pferde keine Zeit für individuelle Entwicklung erhalten, noch die Rückwendung auf die Richtlinien basierend auf der H.Dv.12 werden dem modernen Pferd in Anbetracht der beschriebenen Entwicklungen in der Pferdezucht gerecht und sind kritisch zu hinterfragen. Solange wir 4- bis 5-jährige hoch talentierte, aber schwer traumatisierte Pferde in unserem Betrieb ins Training bekommen, müssen wir uns fragen, warum das passiert.
In unserer schnelllebigen, gewinnorientierten Zeit verlieren wir die Pferde bereits in den ersten Jahren unter dem Sattel. Das Wissen um eine solide Grundausbildung wie sie die Alten Meister noch pflegten, ist einer Industrie gewichen, die auf schnelle Erfolgte und spektakuläre Bewegungen abzielt. Pferde werden als Massenware in Schablonen gepresst, ohne dass ihre weichen Körper ausreichend stabilisiert werden. Nach dem Verkauf landen die jungen Talente unter dem Sattel von Menschen, die die Reiterei in der raren Freizeit ihres intensiven Alltags ausüben. Tauchen Probleme auf, fehlt es an entsprechendem Basiswissen um die Biomechanik und das Grundverständnis für die weitere Ausbildung des Pferdes. In diesem Moment rückt das Potenzial des Pferdes und damit der Traum der Piaffe in unerreichbare Ferne.
Es braucht keine veterinärmedizinische Ausbildung, um die körperlichen Bedürfnisse der Pferde zu verstehen. Es braucht vielmehr die Bereitschaft, sich mit den Gesetzen eines funktionellen Körpers auseinanderzusetzen. Man darf nicht vergessen, dass der Reiter sein Pferd immer ausbildet, wenn er im Sattel sitzt, auch wenn kein Trainer an der Bande steht. Diese Ausbildung kann das Pferd positiv oder negativ prägen – dieser Verantwortung muss man sich jederzeit bewusst sein.
Ganz zentral ist das Wissen um die Diagonalen im Körper des Pferdes. Während die natürliche Schiefe eine negative, belastende Diagonale darstellt, führt die Geraderichtung zu einer positiven Diagonalen, die das Pferd stabilisiert und mobilisiert. Man denke nur an den alten Leitsatz der klassischen Reiterei: Der innere Zügel wirkt auf das äußere Hinterbein, der äußere Zügel auf das innere Hinterbein. Das sind zwei Diagonalen auf dem Weg zur Geraderichtung.
Egal ob Leichtathletik, Fußball oder Klettern, sowohl im Leistungs- wie auch im Freizeitsport: Längst hat man erkannt, wie wichtig neben dem klassischen Kraft- und Techniktraining auch funktionelles Stretching und die Förderung der Stabilität für den menschlichen Körper sind. Bei der Arbeit mit den Pferden hält sich hingegen das hartnäckige Gerücht, dass das Biegen oder in einigen Kreisen gar die Dehnung des Pferdekörpers schädlich sei. Eine Stigmatisierung mit enormen negativen Auswirkungen für die Pferde. Dabei erkannte bereits Gustav Steinbrecht (1808 – 1885) in der Biegung den Weg zu Geraderichtung und Gleichgewicht: «Ferner verstehe ich unter der geraden Richtung des Pferdes nicht seine völlig ungebogene auf die abzuschreitenden Linien, sondern daß es unter allen Umständen, selbst bei stärkster Biegung seines Körpers und in den Lektionen auf zwei Hufschlägen, mit seinen Vorderfüßen den Hinterfüßen vorschreitet, die ihrerseits wiederum jenen unbedingt folgen.» Mit dieser Aussage sollte auch Steinbrechts mehrheitlich falsch interpretiertes Zitat des Vorwärts aus der Geraderichtung des Pferdes im Kontext der gymnastizierenden Biegearbeit verstanden werden.
Wird es bei der Ausbildung unterlassen, das Pferd vor dem Vorwärtsreiten geradezurichten, entsteht ein riesiger Druck auf die Gelenke und Bänder. Muskulaturen verspannen sich zunehmend und unter Umständen massiv. Kissingspines, Fesselträgerschäden, Arthrosen der Halswirbelsäule, Hufrollenbefunde sind die Folgen. Die gesunderhaltende Korrektur der natürlichen Schiefe und der Vorderlastigkeit muss, wie Steinbrecht richtig erkannte, zwingend über die Gymnastizierung erfolgen: durch die Überbiegung des Halses als einziger vollständig biegungsfähiger Köperteil. Erst wenn die Funktion des Halses als Balancierstange des Fluchttieres ausgeschaltet wird, gelingt es dem Pferd über die Lastaufnahme der Hinterhand, seinen gesamten Körper zu stabilisieren und sich in Balance verschleißfrei zu bewegen. Solange das Pferd jedoch mit dem Hals steuert, ist der Rücken nicht in Funktion und der Rumpf unter extremem Druck. Die funktionelle Longenarbeit der Schiefen-Therapie im Trab auf dem Zirkel ermöglicht das Entwickeln der maximalen Biegungsfähigkeit des Halses in ca. 3 bis 4 Wochen. Der Hals wird durch kleinschrittige Biegungsimpluse am Kappzaum tagtäglich geschmeidig gymnastiziert. Dr. med. vet. Kerry Ridgway über die Entwicklung der so gearbeiteten Pferde aus medizinischer Sicht: «Zu meinem großen Erstaunen entwickelten sich die muskulären Muster hin zu einem muskulären Gleichgewicht; der Gesundheitszustand der Pferde verbesserte sich. Dafür gab es nur eine mögliche Erklärung: Diese Pferde fingen an, ihren Körper im Gleichgewicht mit der Schwerkraft zu nutzen. Sie kämpften nicht mehr konstant mit jedem Schritt gegen die Schwerkraft als entscheidenden Faktor des Gleichgewichts an. Schließlich steht, wer gegen die Schwerkraft ankämpft, immer auf verlorenem Posten.»
Ist die maximale Dehnungsfähigkeit auf beiden Seiten erreicht, wird das Pferd die Bewegung aus einer freien Schulter vollziehen und die Längsbiegung einer 11-Meter-Volte mit seinem Körper ausbalancieren können, ohne dass der Körper Schaden nimmt. Abgeschlossen ist der Ausbildungsschritt des Geraderichtens mit der Lastaufnahme des äußeren Hinterbeins, dem freien Vortreten des inneren Hinterbeines unter den Schwerpunkt und dem damit einhergehenden nach oben schwingen des Rückens. Wir müssen die Pferde an der Hand zunächst von vorne nach hinten mobilisieren und stabilisieren bis die Hankenbeugung erreicht ist und der Rücken nach oben schwingt, wodurch die Belastung von den Gelenken weggetragen wird. Nun ist das Pferd bereit, von hinten nach vorne im Sinne der Alten Meister geritten zu werden.
Diese Hankenbeugung ist der erste Schritt in Richtung reeller Versammlung und somit die unentbehrliche Grundlage für die korrekte Piaffe. Die Alten Meister entwickelten sie in jahrelanger sorgfältiger Arbeit an den Pilaren – die Piaffe war kein Selbstzweck, sondern ein Nebenprodukt der systematischen und sorgfältigen Erarbeitung der Hankenbeugung und somit der Tragfähigkeit.
Der Kapitalfehler bei der heutigen Pferdeausbildung liegt darin, dass nicht verhindert wird, dass der Rumpf des Pferdes bei der Belastung durch das Reitergewicht absinkt. Das frühere Ziel der Hankenbeugung, aus der sich ein aktiver Rumpftrageapparat entwickelt, ist der Vorstellung eines unter allen Umständen beigezäumten Halses gewichen, was zu massiven Verspannungen von Hals-, Rücken- und Brustmuskulatur führt. Die Aussage «Der Kopf muss runter» ist sinnbildlich für die heutige Ausbildung auf Irrwegen. Junge Pferde werden mit hohem Tempo ausgebunden «nach unten» longiert und in vermeintlicher «Anlehnung» im Schraubstock von kräftigen Reiterarmen und -beinen in hohem Tempo geradeaus geritten. Pferden auf diesem Ausbildungsweg bleibt die reelle Erarbeitung von hohen Lektionen vorenthalten. Solange das Pferd nicht fähig ist, sich über einen hohen Rumpf und die tragende Hinterhand zu bewegen, bleibt das Potenzial und die reiterliche Entwicklung in einer Sackgasse stecken. Umgekehrt eröffnet das Geraderichten des Pferdes auch dem unbedarften Reiter den Weg zu höheren Ausbildungsschritten. Denn alles, was ein Pferd alleine tun kann, gibt dem Reiter Raum für ein höheres Ziel in der Ausbildung.
Hat das Pferd Balance und Kraft durch entsprechende Gymnastizierung am Kappzaum innerhalb von 6 bis 8 Wochen etabliert und ist es somit geradegerichtet, ist der Grundstein einer gesunden Ausbildung gelegt. Auf der Geraderichtung baut sich mit einer Selbstverständlichkeit und aus der Natur des Pferdekörpers eine fortschreitende höhere Ausbildung auf. So ist die Galopppirouette nur das logische Resultat einer Volte, die – stets aus der Hankenbeugung gesprungen – immer kleiner geritten wird, ist die Piaffe der Trab, der – durchwegs von der Hinterhand getragen – mit zunehmender Tragfähigkeit gesetzter wird. Diese Fähigkeiten stecken in jedem Pferd. Voraussetzung dafür ist das Verständnis der Ausbilder für die Notwendigkeit der Basis-Gymnastizierung des Halses hin zur Erarbeitung der Hankenbeugung. Diese Gymnastizierung muss gerade bei unseren modernen Pferden von Anfang an und noch vor dem Anreiten erfolgen, um psychische und physische Schäden zu vermeiden. Die funktionelle Longenarbeit ist dann gesunderhaltender Ausgleichssport zur disziplinenspezifischen Weiterbildung des Pferdes.
Fazit: Der Grundstein für die Skala der Ausbildung wurde 1912 für das damalige Kavalleriepferd gelegt. Daraus entstand die Heeresdienstvorschrift (H.Dv.), die bis heute weitgehend unverändert das Herzstück unserer Reitlehre bildet. Wird das moderne Sportpferd noch nach denselben Richtlinien wie vor über 100 Jahren trainiert, wird seine gewaltige Schubkraft – vollkommen richtlinienkonform – bereits zu Beginn der Ausbildung multipliziert. Die erst schwach bemuskelte Remonte wird in den ersten Monaten und Jahren bewusst vorwärts geritten, ohne dass ihr Körper diese enormen Kräfte abfangen kann. Mit fatalen Folgen für die Gesundheit des Pferdes. Stellen wir das Geraderichten und die damit einhergehende Gymnastizierung des Pferdes nicht an erste Stelle, werden die Richtlinien an der modernen Zucht scheitern und Piaffe und Passage in weite Ferne rücken.
Was die Alten Meister verstanden, ist beim modernen Pferd wichtiger denn je. Erst wenn das Pferd in Balance ist und eine reelle Hankenbeugung etabliert, kann man überhaupt an Piaffe und Passage denken. Bis diese Lektionen dann in Perfektion vollführt werden können, vergehen Jahre. Die Pferdeausbildung erfordert Zeit und Ruhe – beides Güter, die allzu oft der Schnelllebigkeit der Moderne weichen mussten. Die Würde des Pferdes zu erhalten, sollte der Grundgedanke jeder Ausbildung sein. (Foto: istockphoto.com)
Gabriele Rachen-Schöneich und Klaus Schöneich, Zentrum für Anatomisch richtiges Reiten ARR, www.arr.de