08/02/2024
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Die Pubertät – dieser Anschluss ist vorübergehend nicht besetzt
Der Eintritt in die Pubertät und die Dauer der Adoleszenz variiert individuell und rasseabhängig. Beim kleinen Hund beginnt die Pubertät früher und die Adoleszenz ist früher abgeschlossen. Ein Herdenschutzhund hingegen kann schon mal drei Jahre brauchen, bis er wirklich erwachsen ist. Rüden sind langsamer als Hündinnen. Im Grunde ist Pubertät der Teil der Adoleszenz, in welchem die Geschlechtsreife erreicht wird. Schwierig ist diese Zeit oftmals, weil sich die Prioritäten des eben noch so unkomplizierten und anhänglichen Welpen nun komplett verschieben. Er wird selbstständiger und zeigt ein gesteigertes Erkundungsverhalten. Selbstbelohnendes Verhalten bekommt einen größeren Stellenwert, jede Schnupperstelle ist für den Hund phasenweise interessanter als der Halter. Dem Hund fällt es schwer, sich von für ihn wichtigen und lohnenswerten Dingen zu trennen und sich stattdessen auf seinen Besitzer zu konzentrieren. Ressourcen bzw. deren Verteidigung werden ebenfalls auf einmal wichtig.
Die Veränderungen im Verhalten sind ein physiologisch völlig normaler Ablauf. Der Hund benimmt sich keinesfalls so, um seinen Halter zu ärgern! Trotzdem darf „falsches“ Benehmen nicht geduldet werden. Konsequenz, Sicherheit, Orientierung und Führung braucht der Hund nun mehr denn je. Wenn man den Dingen ihren Lauf lässt, verfestigen diese sich und wachsen zu immer größeren Problemen heran.
Informationen, Wissen, Können und Fähigkeiten, die in der Welpen- und Junghundezeit wichtig waren, werden jetzt grundlegend auf den Prüfstand gestellt, um zu testen, ob sie auch jetzt und im zukünftigen Erwachsenendasein noch Bedeutung haben. Was in diesem Zeitraum nicht bestätigt wird, wird also vergessen. Weil aber die neuen Verknüpfungen oft erst aufgebaut werden, nachdem die alten gelockert sind, ist buchstäblich eine lange Leitung, ein verzögertes Verständnis, ein gestörtes Erinnerungsvermögen und anderes Verhalten in dieser Zeit zu erwarten und auch nachweisbar. „Das hat er ja noch nie gemacht“ wird zum Standardspruch des Hundebesitzers in den nächsten Monaten (oder sogar Jahren) – und stimmt hier sogar einmal. Wenn wir gestern noch einen kleinen Streber unser eigen nannten, haben wir jetzt ein Pubertier an der Leine. Und mit ihm ist über Nacht der „Was war ‚Komm her‘ gleich wieder“-Blick aufgetaucht. Wut auf den ignoranten Hund ist zwar verständlich, hilft aber nicht weiter. Geduld und Verständnis sind wichtig, auch wenn das leichter geschrieben als getan ist.
Der Stresshormonspiegel ist bei allen Säugetieren während der Phase des Heranwachsens am höchsten. Durch geänderte Konzentrationen nicht nur der Sexualhormone, sondern auch von Schilddrüsenhormon, Nervenwachstumsfaktor und Cortisol werden die Verhältnisse im Gehirn völlig »aufgemischt«. Zellen und Verknüpfungen im Gehirn werden abgebaut und später durch andere, schnellere und leistungsfähigere Verbindungsstrecken ersetzt. Sexualhormone und Cortisol zusammen bilden, wie man z. B. aus Untersuchungen von Aggressionsauffälligkeiten bei pubertierenden Mädchen weiß, eine ausgesprochen explosive Mischung. In der Pubertät steigt durch diesen Hormoncocktail die Risikobereitschaft, also die Bereitschaft, auch potenziell gefährliche Dinge zu tun, ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Genau dieses Phänomen kennt man auch von menschlichen Pubertierenden. Die Sexualhormone, speziell Testosteron, aber auch Östrogene ihrerseits, steigern die Emotionalität, erhöhen bisweilen auch den Spiegel des „Kampfhormons“ Noradrenalin.
Infolge der Veränderungen im Gehirn sind Impulskontrolle und Risikoabschätzung nicht unbedingt die Stärke pubertierender Junghunde. Der Junghund reagiert empfindlicher und intensiver auf Reize aus der Umwelt. Dies bedeutet, dass Reaktionen emotionaler ausfallen als bisher. Dies ist leider auch ein guter Nährboden für Aggressionen. Besonders Rüden testen schon mal ihren Marktwert beim Zusammentreffen mit anderen Rüden; in den so genannten Kommentkämpfen geht es dann mitunter sehr laut und aggressiv zu, bis einer signalisiert "Ok, ich gebe auf, du bist der Stärkere". Das ist normales Halbstarken-Verhalten und sollte sich nach den ersten zwei bis drei Lebensjahren wieder legen. In den allermeisten Fällen ist die Rauferei harmlos und die Hunde tragen keine Verletzungen davon, auch wenn dem Besitzer angst und bange beim Zusehen wird. In der Regel gilt: Je lauter es zugeht, desto ungefährlicher. Derartige Erfahrungen im Junghund-Alter fördern das angemessene soziale und respektvolle Verhalten bei späteren Auseinandersetzungen. Hundekontakte nun zu meiden, ist also der falsche Weg. Besonders ein souveränes hundliches Gegenüber, das in dieser Phase eindeutige Abbruchsignale und Grenzen setzt, ist dieser Entwicklung förderlich. Allerdings sollten Hundehalter die Kommentkämpfe genau beobachten. Denn natürlich können sich Schaukämpfe auch zu ernsteren Auseinandersetzungen entwickeln. Dazu kommt es jedoch eher bei Jungrüden, die sich unbekannt sind. Im Beisein einer deckbereiten Hündin kann es aber auch zwischen »Kumpeln« zu ernsthaften Streitigkeiten kommen.
Auch Hündinnen werden zickiger zu Artgenossen, finden Welpen und Junghunde vielleicht plötzlich ziemlich doof. Vorsicht ist geboten bei Hündinnenraufereien, denn diese sind zwar seltener, aber dann ernsthafter und oft auch schnell ziemlich blutig, geht es doch um die Verteidigung des eigenen (auch fiktiven) Nachwuchses.
Bei Fehlverhalten dem Mensch gegenüber ist es essentiell, Grenzen aufzuzeigen und durch Abbruchsignale und andere unmissverständliche Kommunikationsschritte die Handlungen des Pubertierenden einzuschränken. So erfolgt schnell eine gesellschaftsverträgliche Anpassung. Wichtig ist dabei jedoch, dass diese genannten Verhaltensabbrüche immer in einem positiven Zusammenhang, z. B. durch nachfolgende Spielhandlungen, wieder Freundlichsein, beendet werden müssen. Rein negatives Unterdrücken durch aversive Einwirkungen oder auch Ignorieren ist hier der falsche Weg. Es bleibt bei der Regel, dass Strafe die Ausnahme und Lob die Regel sein muss.
Wirklich erwachsen ist der Hund dann wohl erst etwa nach vollständigem Durchlaufen des 3. Läufigkeitszyklus der Hündin (Rüden entwickeln sich ähnlich schnell, also kann dieser Richtwert auch für sie übernommen werden), also frühestens mit 1 ½ Jahren, große Rassen auch oft deutlich später. Wird bereits vor oder während dieser Zeit kastriert, so fehlen die genannten chemischen Einflüsse der und Entwicklungen durch die verschiedenen Hormonsysteme, und das Tier bleibt sein Leben lang jugendlich bis unkontrolliert kindsköpfig.
Die Pubertät ist auch bei Hundeartigen derjenige lebensgeschichtliche Zeitabschnitt, in dem über die zukünftige Abwanderung aus dem Rudel entschieden wird. Die Entscheidung, in einem Familienverband zu verbleiben oder diesen zu verlassen, ist wesentlich abhängig von den sozialen Signalen und Mechanismen, die von den ranghohen und älteren Gruppenmitgliedern eingesetzt werden. Wird Hunden in dieser Situation gezeigt, dass sie im Verband nicht willkommen sind, bereiten sie sich innerlich ebenso auf die Abwanderung vor, wie umgekehrt Hunde, die erkennen, dass sie von den Leitindividuen gegenüber den Kindern bzw. Jugendlichen bevorzugt werden, sich daraus eine privilegierte Stellung, gegebenenfalls auch auf Kosten der heranwachsenden menschlichen Mitglieder, sichern wollen. Es ist also Fingerspitzengefühl und genaues Hinschauen auf die einzelnen Beziehungen im Hund-Mensch-Verband erforderlich, um rechtzeitig gegensteuern zu können.
Grundsätzlich hilfreich in der Pubertät ist es, bewältigbare Anforderungen an den Hund zu stellen. Ob das im Training der bekannten Hundesportarten liegen soll, im Beibringen von Tricks oder einem Mischmasch aus Nasenarbeit, Agility, Obedience etc. ist völlig egal. Dann braucht er sich auch keine unerwünschten Ersatzbeschäftigungen zu suchen, mit denen er sich selbst seiner Stärke vergewissern will. Die plötzlich erwachenden Wach- und Schutzbestrebungen des Hundes sollte man nicht als lästigen und peinlichen Aspekt werten, sondern als Ausdruck normalen Hundeverhaltens und versuchen, sie zu kanalisieren. Erstes Melden wird mit einem "Fein aufgepasst" verbal belohnt, es gibt ein Leckerchen, dann fordert man ein alternatives Verhalten, das mit Bellen unvereinbar ist.
Das erzieherische Vorgehen des Hundebesitzers ist in der Pubertätsphase eine Gratwanderung von Ignoranz, Toleranz und Konsequenz. Es hilft, sich in die Gedankenwelt des Hundes einzufühlen, ruhig und konsequent ohne Wutausbrüche dabeizubleiben, dass der Hund Ge- und Verbote zu beachten hat, Humor zu beweisen und ihn - im übertragenen Sinne - an langer Leine zu führen. Das bedeutet konkret im Alltag: Wenn der Hund bislang ein folgsamer Begleiter gewesen ist und gut im Familienrudel eingeordnet gewesen ist, sollte man nicht an sich und den bisherigen Erziehungsbestrebungen verzweifeln. Positives Denken ist der erste Schritt zu positiver Problemlösung. Hat der Hund jedoch bislang auch schon nie so richtig "funktioniert", hat sich immer schon kleinere Frechheiten herausgenommen und demonstriert, dass Mensch ihm nichts zu sagen hat, was jetzt nur extensiv gesteigert wird, dann sollten man sich darüber im Klaren sein, dass es jetzt fünf vor zwölf ist und gegebenenfalls fachkundige Hilfe holen.
Im Normalfall ist aber die hundliche wie auch menschliche Pubertät eine natürliche, oft nervenaufreibende, aber ganz sicher vorübergehende Phase, die gemeinsam mit dem Vierbeiner überstanden werden muss.