19/06/2022
Eine unerträgliche Situation und auch ich als Verhaltensberaterin kann sie spüren. Durch die Anfragen, die bei mir eingehen und bevor ich "helfen" kann, sind die Hunde schon wieder weg ... zurück an den Züchter, ab ins Tierheim oder die Leute melden sich einfach nicht mehr ...
Erst letztens hatte ich eine Anfrage von einer Familie mit einem 3-jährigen Kind. Holen sich einen Appenzellerwelpen dazu ... wie kann ich das Beißen abstellen. Der Welpe war 9 Wochen alt!
Bitte nicht falsch verstehen! Sich frühzeitig Hilfe zu holen ist absolut in Ordnung!!! Aber sie wollten Hilfe, weil der Hund das Kind "beißt", andere Menschen beim Gassi anbellt und nicht an der Leine laufen kann! Verständnis für den Hund?! Gleich Null 😔
Nur 1 Tag nach der Anfrage kam die Nachricht, dass sie sich entschlossen haben, den Welpen zurückzugeben. Gott sei Dank an den Züchter und nicht ans Tierheim. Aber nach 6 Tagen ... ehrlich Leute ... was erwartet man von einem kleinen Wurm, der vor 6 Tagen erstmal alles verloren hat: Mutti, Geschwister, gewohnte Umgebung, Züchter ... alles neu!
+++ EDIT: Zu den Adressaten dieser Zeilen zählen unter anderem ganz klar die Entscheidungsträger in diesem Land. Die Politiker, die ja schließlich der „Kopf“ dieser Gesellschaft sind, in der so vieles schief geht, ganz besonders, was das Wohl unserer Mitgeschöpfe angeht. Es ist ohnehin dramatisch, dass eine Gesellschaft Instititutionen braucht, die Tiere schützen müssen; wie verroht ist der Mensch eigentlich?! Aber zur Zeit werden die Tierheime und Tierschutzvereine überansprucht; das könnte sich ändern, wenn Tierschutz nicht erst in entsprechenden Institutionen anfängt, sondern schon auf oberster Ebene einer Nation. Wie sagt man so schön: Der Fisch fängt vom Kopf an zu sticken. Und es stinkt einiges gewaltig! Nicht allein im Bezug auf das Thema Hund. +++
Wir müssen reden. Es wird offen und unangenehm.
Wir Tierheime befinden uns seit ein paar Jahren in einer schwierigen Situation, die immer heikler wird und die Lage scheint sich in rasanter Geschwindigkeit zuzuspitzen. Wir haben in diesem Land, ehrlich gesagt, sehr, sehr viele Hunde. Oder besser gesprochen: Zu viele Menschen besitzen Hunde (woher auch immer), die sie nicht im Griff haben oder, die sie sich unüberlegt angeschafft haben und das Interesse verlieren, und somit ist immer für überfüllte Tierheime gesorgt. Logisch eigentlich.
Im Austausch mit Kollegen, bundesweit, stellen wir eine Sache fest: Wir alle haben Sorge, dass in Zukunft einige Tierheime und deren Tierärzte gezwungen werden könnten, ihre als schwierig geltenden Hunde, töten (lassen) zu müssen. Euthanasie kann man es eben nicht nennen, wenn einem gesunden Tier das Leben genommen wird. „Einfach“, weil die Flut der Hunde, die ihr Zuhause verlieren oder keine Pflegestelle finden, nicht mehr zu bewältigen sein könnte. Was ein Wahnsinn! Und was ein unbeschreibliches Horrorszenario.
Ebenso seit ein paar Jahren schallt einem ein Wort entgegen, dessen Krach ohrenbetäubend ist, gar sinnesraubend, wenn man Hund lebt. Es macht mittlerweile den Anschein, als sei dieses Wort eine Einleitung zur Legitimierung und gesellschaftlicher Anerkennung zukünftiger Tötungen.
Dieses Wort im Tierschutz, beim Hundetraining, unter Haltern, in der Gesellschaft, das einen extrem unangenehmen Beigeschmack hat, zieht viele dunkle Wolken voller negativer Energie hinter sich her. Es öffnet eine Schublade, verschließt ein Individuum darin und lässt dieses selten wieder heraus. Es spricht einem einzigartigen Charakter seinen Facettenreichtum ab und vergiftet dessen Umgebung. Wenn ein Lebewesen dieses Wort als Titel trägt, wird ihm damit eine Last auferlegt, die mehr Raum einnimmt in der Welt als das Wesen selbst…
Problemhund
Wo kommt das Un-Wort und sein Gebrauch her?
Wann haben Menschen, selbstständig denkende und handelnde Individuen, die sogenannte Krone der Schöpfung, entschieden, bestimmten Hunden, die ja nun mal menschgemacht sind, einen derartigen Stempel aufzudrücken?
Ihnen diesen Titel zu verleihen und sich selbst somit aus der Verantwortung zu stehlen?
Ein Phänomen.
Mit dem Status Problemhund scheint der Mensch eine Grenze zu erreichen, die er nicht in der Lage ist zu überschreiten. Der Hund soll ein Problem sein und *Punkt*. Das Problem scheint wohl ein andauerndes und kann vermeintlich nicht gelöst werden. Obgleich wir wissen, dass nicht lösbare Probleme den Status „Problem“ aberkannt bekommen sollten und man dann einen Umgang damit finden muss. Die Verantwortung vermag hier das Tier allein für sich zu tragen und der Mensch steigt einfach aus. Gibt somit einen Hund auf, spricht ihm seine Individualität ab, missachtet seine Persönlichkeit, nimmt ihm die Möglichkeit am Leben teilzunehmen, verwaltet anstatt zu versorgen oder schiebt das Problem einfach ab, verlagert es.
Es sind die sogenannten Langsitzer in den Tierheimen oder die „verhaltensauffälligen" und meist bissigen oder auch ängstlichen, ggf unverträglichen etc. Hunde, die leider damit tituliert und somit in eine dunkle Ecke gestellt werden, aus der sie nur schwer wieder heraus kommen. Sie fordern tagtäglich unser Wissen und unsere Offenheit, Neues über sie, aber auch uns zu lernen. Sie besetzen über Monate, Jahre einen Platz im Tierheim, vielleicht sogar einen ganzen Zwinger. Mal ganz grob gesprochen. Sie nehmen im wahrsten Sinne des Ausdruckes Platz in der Welt ein, den ihnen die Gesellschaft womöglich nicht mehr zugestehen will, vielleicht sogar diejenigen, die im Grunde hierfür Verantwortung übernehmen sollten.
Es sind die Hunde in den Privathaushalten, die vielleicht komplexere Ansprüche an ihre Haltung stellen, was der Halter jedoch in vielen Fällen selbst herbei geführt hat. Fehleinschätzung, Überschätzung, Unterschätzung; egal, wie man es nennen will: Einer Hundehaltung geht immer eine freie Entscheidung eines Menschen voraus. Der schlecht reflektierte oder nicht ausreichend informierte Trainer steigt dann gegebenenfalls mit in das Boot ein und schon ist der Hund ein perfekter Sündenbock, ein Problem.
Das Wort Problemhund scheint die Omnientschuldigung zu sein, die benutzt wird, wenn das eigene Wissen über Hunde und das Können im Umgang mit ihnen nicht mehr ausreichen. Wenn auch (vielerorts leider der Fall) wirtschaftliche Interessen oder Bequemlichkeit die eigene Ethik verdrängen.
Ein Tier zum Problem zu machen bzw es ein Problem erzeugen zu lassen, ist vorrangig eine menschliche Entscheidung. Einstweilen haben wir es in der Welt immer mit Tatsachen zu tun. Deren Bewertung durch den Menschen lassen sie zum Problem werden oder auch nicht. Dann geben doch schließlich Menschen den Rahmen vor, in dem sich ein Hund verhalten kann oder darf.
Also, wo genau soll das Problem sein?!
Ist es nicht eher so, dass der Hund das Symptom eines Problems ist, das seine Wurzel tief in einer Gesellschaft mit Doppelmoral und ohne Anstand hat? Ist es nicht eher so, dass in Bezug auf Hunde vieles, das gut gemeint war, schlecht gemacht ist? Ist es nicht so, dass Hunde zu einer Massenware geworden sind, die vom Menschen schlichtweg konsumiert wird?
Es herrscht ein Überangebot an Hunden. Jeder, der will, wird irgendwo bedient; egal, ob der Hundetyp zu der Person passt oder nicht. Wir deutschen Tierheime schreien nach mehr Ordnung, nach mehr Auflagen für Menschen, die mit Hunden „handeln“ und nach mehr Verantwortung für Käufer und Halter. (Es wird ja leider kaum Qualifikation verlangt, um Menschen und Hunde zusammen bringen zu dürfen.) Wir sind aber nicht in der Lage, diese Ordnung herzustellen, wir sind keine Behörde, können nicht auf andere einwirken. Wir werden dazu gezwungen, Teil des Symptoms zu sein. Müssen uns anhören, dass manche Hunde Probleme sind. Wir müssen Schicksale tragen und ertragen und müssen ins Bett gehen mit dem Bewusstsein, dass wir vielen Hunden nicht helfen konnten, sie nicht bei uns aufnehmen konnten, weil die Kapazitäten schlichtweg erschöpft sind.
Es wird ein Mensch-Hund-Sumpf geschaffen, in dem man sich im Kreis dreht, und schlussendlich wird der angeblich beste Freund des Menschen geopfert, exkommuniziert, anstatt das Übel bei der Wurzel zu packen und das eigentliche Problem zu lösen. DAS ist unmenschlich und entbehrt jedweder Ethik und Moral.
Es ist zum Wegrennen, aber wir tun es nicht. Und wenn, würden wir sicherlich wiederkommen…