29/05/2024
Wenn uns unsere Hunde den Spiegel vor halten
… und unsere blinden Flecken beleuchten.
Ja, was ist dann eigentlich? Sollten wir ihnen dankbar sein? Können wir auf jeden Fall. Finde ich.
Natürlich bringen unsere Hunde schon ganz viel mit, wenn sie zu uns kommen. Aber vieles entwickelt sich auch erst im Zusammenleben mit uns. Und da kommen dann Themen auf, die bei genauer Betrachtung gar nicht so selten ganz viel mit uns selbst zu tun haben.
Eckstein hat mich daran heute Abend wieder erinnert (auch wenn er das eigentlich gar nicht muss).
Viele von euch haben seinen Prozess raus aus der Traumatisierung durch Menschenkontakt die letzten Jahre mitverfolgt. Mittlerweile lässt er sich streicheln. Von mir. Und auch immer öfter von anderen. Manchmal sogar komplett Fremden.
Über diese Entwicklung bin ich immer noch sehr, sehr erstaunt.
Worüber ich aber noch mehr erstaunt bin ist die Feststellung, die ich schon vor einer Weile machen durfte, wann er sich von mir nicht! streicheln lässt.
Nämlich immer dann, wenn ich mich von meinem wahren Selbst entferne. Wenn ich mich anpasse an Umstände oder Menschen in meinem Umfeld, wenn ich mich verliere oder wenn ich in mein altes Trauma durch einen Menschen gestoßen wurde (meist bedingt sich das alles).
Dass wir beide ein Trauma durch Menschen erlitten haben ist mir übrigens erst vor Kurzem bewusst geworden. Also, die Gemeinsamkeit habe ich tatsächlich erst vor Kurzem bewusst wahrgenommen.
Er ist nur viel schlauer als ich, er achtet sehr darauf, dass keine Retraumatisierung möglich ist.
Heute Abend ist Eckstein nach sehr langer Zeit mal wieder aktiv zu mir aufs Sofa gekommen, hat sich zwischen meine Beine lang hingelegt und hat sich Berührungen erbeten. Gerne überall. Hintern, Rücken, Innenseite der Oberschenkel (besonders beliebt), Bauch, Ohren, Nasenrücken (auch besonders beliebt).
Und in diesen innigen Minuten mit ihm wurde mir klar, dass ich nach sehr anstrengenden Monaten wieder da bin, wo ich hingehöre: bei mir. Nah an meinem wahren Selbst.
Und so hält er mir immer wieder den Spiegel vor. Ich muss nur noch besser lernen, mich daran zu erinnern, was es heißt, wenn ich Eckstein, wie in den vergangenen Wochen, eher selten zu Gesicht bekomme. Daran arbeite ich noch. Denn ich bin ja genau dann nur schwer in der Lage, mich selbst zu sehen. Aber er beleuchtet genau diesen blinden Fleck. Beständig. Konsequent. Wohlwollend.
Und ich weiß (besonders aus den Gruppentrainingsurlauben und der Persönlichkeitswoche), es geht ganz vielen von euch so. Da können wir noch so viel an der Technik arbeiten, wie ihr euren Hund in die Ruhe oder an anderen Hunden entspannt vorbei bringt. Oder dass sie aufhören alle Menschen in eurer Nähe anzumotzen oder alles zu melden, was sich in eurem Umfeld bewegt. Oder angemessen mit anderen Hunden zu kommunizieren. Oder sich Zeit zu nehmen. Oder oder oder.
Meine Erfahrung ist, ist innerlich viel in Bewegung und wenig Stabilität im eigenen Selbst, ist es für einen reizreaktiven, hibbeligen Hund sehr schwierig, sich an eurer Leine zu entspannen.
Wollt ihr um alles in der Welt vermeiden, dass Menschen euch zu nahe kommen – emotional, nicht körperlich – und euch wirklich wahrnehmen und in euch blicken können, dann wird es schwierig für euren Hund, nicht alles anzumotzen was sich um euch herum bewegt oder zu nah an euer Haus, euer Versteck vor der Welt, kommt.
Geht ihr ständig über eure sensorischen Grenzen, mutet euch zu viel zu an Reizen und passt ihr euch zu sehr an, wird es schwierig für euren reizsensitiven Hund, euch nicht ständig anzuschreien, wenn es (aus seiner Sicht und dann auch für ihn) zu viel ist.
Ist Kontrolle und Perfektionismus das, was euch am Laufen hält, weil ihr sonst, in Ermangelung an Alternativen, zusammen brechen würdet, wird es schwierig für euren Hund, dem Reh nicht hinterher zu jagen oder sich nicht genau dann „daneben“ zu benehmen und mal nicht entspannt an einem anderen Artgenossen vorbei zu gehen, wenn ihr es gerade nicht erwartet.
Fühlt ihr euch orientierungslos, habt den Kontakt zu euch selbst und eurem wahren Kern verloren, ist es schwierig für euren Hund, zuhörend und in eurem unmittelbaren Nahbereich mit euch gemeinsam durch den Alltag zu gehen und sich auf eure Führung zu verlassen.
Ich könnte ewig so weiter machen, aber ich glaube, ihr versteht, worum es mir geht.
Und versteht mich bitte nicht falsch. Ganz viele Alltagsschwierigkeiten beheben wir durch sinnvolle, für den Hund passende und logische Führungstechniken.
Aber eben nicht alle. Denn wer ein hoch komplexes, soziales Beziehungswesen führen möchte, muss sich auch – wenigstens ein Stück weit – selber führen können.
Und Führung ist nicht Kontrolle. Führung ist nicht Perfektionismus. Führung ist nicht, sich hinter einer Mauer zu verstecken und sich nicht zu zeigen. Führung ist nicht Angst vor Verantwortung. Führung ist nicht laut und unbeherrscht. Führung ist nicht Monolog. Führung ist nicht Manipulation.
Führungskompetenz findet sich auf dem Weg zum wahren Selbst.
Danke Eckstein.
(Darf natürlich, wie alles von dieser Seite, gerne geteilt werden.)