28/10/2025
MESSEN IST WISSEN
Ein Beitrag von Willem Mulder
Die Reisesaison ist beendet, die Meister stehen fest, und bald lesen wir wieder zahlreiche Berichte über die Leistungen der Spitzenschläge. Doch nicht alles, was man liest, lässt sich eins zu eins übernehmen. In der Taubenzucht und -reise gilt: Es gibt viele Wege zum Erfolg – aber noch mehr, die nicht dorthin führen. Entscheidend bleibt die Gesundheit, Betreuung und Motivation unserer Tauben.
Gesunde Tauben – die Grundlage des Erfolgs
Für mich zählt vor allem eines: Tauben, die optimal gesund sind, gut versorgt werden, ein stabiles Orientierungssystem besitzen und gerne nach Hause kommen. Darauf muss man selektieren. Gute Nachzucht stammt oft von starken Stämmen, doch eine Garantie gibt es nie. Jeder Züchter zieht viele Durchschnittstauben und nur wenige Spitzenvögel – selbst auf den sogenannten Top-Schlägen.
Berichte und ihre Grenzen
Ich habe mich seit vielen Jahren auf die Ernährung der Brieftauben spezialisiert. Immer wieder staune ich über die Kreativität mancher Züchter in den Fachberichten: von eiweißarmer Fütterung bis zu einem „Ganzjahresfutter ohne Anpassung“. Natürlich hat das Füttern bei diesen Züchtern funktioniert – sonst stünden sie nicht mit ihren Erfolgen in der Zeitung.
Doch was viele übersehen: Es hat funktioniert bei diesen Tauben, auf diesem Schlag, an diesem Standort, in diesem Jahr. Auf einem anderen Schlag unter anderen Bedingungen kann das völlig anders aussehen. Unsere Sportart ist individuell – meist sehen wir nur, was auf unserem eigenen Schlag funktioniert.
Wie alles begann – Horst Collenberg
Mein Wissen über Taubenfütterung geht auf eine Begegnung zurück, die nun etwa 35 Jahre her ist: Mein erster deutscher Kunde war die Firma Collenberg in Haltern. Ich hatte Erfahrung mit Tierernährung, aber nicht speziell mit Brieftauben.
Horst Collenberg fragte mich damals nach Analysen meiner Futtermuster. Als ich sie nicht hatte, versprach ich, sie nachzureichen. Beim nächsten Besuch fragte er, ob wir eigene Mischmaschinen hätten. Als ich bejahte, sagte er:
„Herr Mulder, hier oben am Ruhrgebiet sitzt die Hälfte aller westdeutschen Tauben – und alle Futtermittelfirmen liefern hierher. Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir besser sein als die anderen. Sonst haben wir keine Chance.“
Von da an begann eine intensive Zusammenarbeit. Alle 14 Tage besuchte ich ihn, und jedes Mal lernte ich mehr. Horst war ein direkter, charismatischer Mensch, manchmal unbequem, aber analytisch brillant. Was andere nur vermuteten, konnte er genau erklären. Für mich bleibt Horst Collenberg der große Lehrer in Sachen Fütterung – und mein Denken ist bis heute geprägt von seiner Philosophie.
Wissenschaft durch Beobachtung
Collenberg war überzeugt: Die Tauben wissen besser, was sie brauchen, als wir. Sie stehen der Natur näher – nur wissen sie nicht, wie weit der Flug sein wird.
Deshalb begann er Monate vor der Saison mit einem außergewöhnlichen Experiment: Er stellte eine Holzkiste mit 25 Schälchen auf, jedes mit einer anderen Saat, alle gleich gewogen. Nach dem Training durften die Tauben 30 Minuten fressen, was sie wollten. Danach wurde jedes Schälchen gewogen, der Verbrauch pro Taube berechnet und notiert – ebenso Windrichtung, Tages- und Nachttemperatur. Dieses Ritual wiederholte er täglich – morgens und abends. So entstand ein präzises Bild, welche Körner die Tauben in welcher Phase bevorzugten.
Die Erkenntnisse aus der Reisesaison
Auch während der Flüge führte Collenberg akribisch Buch: Nach schweren Flügen fraßen die Tauben deutlich mehr Hülsenfrüchte, nach leichten fast keine. Nach langen Flügen bevorzugten sie fettreiche Saaten, in der zweiten Wochenhälfte nahmen sie kaum noch Eiweiß auf. Kurz vor dem Flug fraßen sie hauptsächlich kleine, fettreiche Körner.
Nach der Saison analysierte er alle Daten: die Futteraufnahme, Wetterbedingungen, Flugdauer und Richtung. Eine gewaltige Arbeit – aber sie führte zu einem revolutionären Verständnis.
Das 3-Phasen-System
Nach dieser Analyse entwickelte Collenberg das bekannte Phase-I-, Phase-II- und Phase-III-System. Es basiert nicht auf Flugkilometern, sondern auf Flugzeit und Energieverbrauch. Eine Faustregel lautet: etwa 3 Gramm Fettverbrauch pro Flugstunde.
Damit konnte die tägliche Futterzusammensetzung exakt auf die Bedürfnisse der Tauben abgestimmt werden. Wichtig war auch: Nicht zu früh mit fettreichen Komponenten beginnen, um keine verfrühte Hochform zu erzeugen. Dieses praxisorientierte System brachte unzählige Erfolge und wird bis heute vielfach angewendet.
Das Experiment mit Schaffett
In einer späteren Phase testete Collenberg – wie viele andere Züchter auch – tierische Fette. Er mischte eine fettarme 3-Phasen-Mischung und ergänzte sie mit Schaffett. Anfangs flogen die Tauben ausgezeichnet. Doch nach fünf Flügen war die Form vollständig verschwunden. Die Tiere mussten mehrere Wochen auf Reinigung gesetzt werden, um sich zu erholen – die Saison war gelaufen.
Die Lehre daraus: Tauben können nur begrenzt tierische Fette verwerten. Wer sie einsetzt, sollte das sehr vorsichtig tun und immer mit einem Lecithinöl, um die Fettaufnahme zu verbessern.
Wissenschaft und Praxis – Hand in Hand
In jener Zeit wurden auf 20 bis 30 Schlägen in Deutschland, den Niederlanden und Belgien zahlreiche Tests durchgeführt. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden unter realen Schlagbedingungen überprüft. Denn Laborversuche sind etwas völlig anderes als der Alltag eines Witwerschlags.
Darum orientiere ich mich bis heute an dieser Verbindung von Praxis und Wissenschaft. Viele neue Ideen klingen interessant, doch wenn sie nicht zu dieser Denkweise passen, bleiben sie für mich zweitrangig.
Die Grundlage meines Wissens stammt von Horst Collenberg – meinem Lehrer, meinem Freund und einem der größten Praktiker unseres Sports. Ich bleibe seiner Philosophie treu, auch wenn er längst nicht mehr unter uns ist.
Willem Mulder
E-Mail: [email protected]
Tel: +31 (0)648 – 71 74 75