10/06/2020
Mein Appell an den gesunden Menschenverstand....
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Ein Hund ist in erster Linie ein Tier. Er teilt nicht unsere Werte- und Moralvorstellungen. Er hat auch keine Kenntnis über unsere Gesetzeslage oder über die Konsequenzen für sich selbst und seinen Besitzer, wenn es zu einem Beißvorfall kommt.
Ein Hund ist ein Tier.
Genauer: ein Raubtier!
Wer hier schon den Kopf schüttelt, darf gerne googeln...
Wer also ein Raubtier sein eigen nennt, ist über seine persönlichen Gefühle hinaus, besonders zur rationalen Beurteilung des Verhaltens seines Tieres in jeder Situation verpflichtet. Verantwortungsbewusstsein!
Genau darin liegt das Problem.
Täglich versuche ich als Trainer, Hundehalter dafür zu sensibilisieren. Zunehmend fällt auf, dass viele eine romantisiert naive Sichtweise ihres Tieres nicht ablegen können/wollen.
So kann man immer wieder hören, ein Tier sei "dankbar", weil es gerettet wurde. Oder wenn es bereits zu einem Beißvorfall kam, höre ich nicht selten Formulierungen wie "er zeige Betroffenheit".
Genau derartige Einstellungen bei Hundebesitzern führen zu traurigen Unfällen. Sie verkennen die Natur des Raubtiers. Genau genommen ist es dem Hund gegenüber sogar unfair und der eigenen Umwelt gegenüber sehr fahrlässig, einem Tier solche Fähigkeiten zu unterstellen. Dies macht blind für das Potential eines Hundes und verhindert den rationalen Blick auf die Natur des Raubtiers.
Die meisten Einzeltrainings, die bei mir stattfinden, behandeln Aggressionsprobleme. Aus über 14 Jahren Berufserfahrung weiß ich, dass viele dieser Hundehalter gefährliches Verhalten ihrer Hunde verkennen, herunter spielen bzw. ihr Wahrnehmungshorizont völlig verschoben ist.
Ich nenne hier mal nur drei Beispiele, aber ich könnte 100e weitere aufzählen.
1. Bsp.
Zwei Besitzer einander völlig fremder, erwachsener Labradorrüden bestehen darauf, dass diese Tiere zwingend miteinander spielen müssen.
Ich belehre. Ich versuche zu überzeugen.
Ich merke, wie ich mich trotz stichhaltiger Argumente bei den Besitzern zunehmend unbeliebter mache, weil ich dagegen bin, die beiden Rüden spielen zu lassen.
Trotz aller Warnungen (sie wissen es schließlich besser als ich), lösen sie die Leinen.
Beide Rüden hatten bis zu diesem Tag weder Erziehung noch einen Hauch von Ausbildung genossen.
Wie ich vermutete und beiden Besitzern vorher prophezeite, kam es sofort zum Kampf, woraufhin der eine Besitzer seinen eigenen Rüden griff und damit den Kampf trennen wollte.
Diese Gelegenheit nutzte der andere Rüde und verbiss sich im nackten Unterarm des Mannes und begann heftig zu schütteln. Mein Co-Trainer sicherte den anderen freilaufenden Rüden und ich löste den, im Arm des Mannes verbissenen und nun heftig hin und her schüttelnden, Rüden.
Jetzt am verbissenen Hund zu ziehen, würde die Verletzung des Mannes nur verschlimmern.
Also musste ich anders und heftig einwirken, um den Hund dazu zu bringen, dass er seinen Kiefer öffnet. Genau genommen hob ich ihn am Fell seines Genicks und Hinterteils in die Luft und trat ihm mit dem Knie gegen den Brustkorb (Sorry, liebe Tiernaivlinge!). Meine Einwirkung war ausreichend. Er öffnete den Kiefer und gab somit den Unterarm des Mannes frei.
Erst als mein Co-Trainer ihm den Fang zu band, setzte ich ihn wieder ab. Während mein Co-Trainer diesen Hund auch an einem Baum anband, begann ich mit den Erste Hilfe Maßnahmen. Elle und Speiche des muskulösen Männerunterarms waren sichtbar. Die Schlagader durchtrennt.
Doch nun kam die Besitzerin des Hundes, der vor ihren Augen und in ihrem Beisein (sie unternahm nichts, um dem Mann zu helfen!), einen erwachsenen Mann derart verletzte, dass nur das schnelle Erscheinen eines RTWs Schlimmeres verhinderte und meinte: "Haben sie da gerade in meinem Hund getreten?!" Der Einblick in ihre Sichtweise ließ mir jede Freundlichkeit abhanden kommen: "Ja, habe ich. Der Umweg zum Spaten hätte zu viel Zeit gekostet!"
Dieser Vorfall ist 10 Jahre her. Keiner der Hunde wurde eingeschläfert. -> Gut.
Eine Entschuldigung blieb sie dem Verletzten schuldig. -> Unverschämt!
2. Bsp.
Ein Besitzer mit einem 45kg Ridgebackmix wendet sich an uns, weil sein Hund immer so doll an der Leine ziehen würde, wenn er andere Hunde sieht. Ich weiß aus Berufserfahrung, dass sich hier oft mehr dahinter verbirgt, als dem Besitzer bewusst ist. Um nicht Unbeteiligte zu gefährden, entschied ich dieses Einzeltraining auf unserem Hundeplatz stattfinden zu lassen und meine eigenen Hunde zu nutzen.
Das "bissl" Leineziehen entpuppte sich als jahrelang aufgebaute Leinenaggression und der Ridgimix meinte es Ernst. Toternst!
Das Einzige, was ihn noch davon abhalten konnte, meinen Hund zu verletzten, war die Leine in der Hand des Besitzers, der ihn kaum noch halten konnte.
Mir reichte was ich bereits an nur einem meiner Hunde gesehen hatte, um zu wissen, dass es noch schlimmer ist, als ich von vornherein vermutete. Ich will meinen Hund wieder weg bringen, derweil eskalierte der Ridgimix gegen seinen eigenen Besitzer.
Da mein Co-Trainer bereits vermutete, dass dies passieren könnte, bekam er den Ridgimix noch rechtzeitig von unten am Halsband zu fassen, bevor sich sein Fang in den Arm seines eigenen Besitzers bohren konnte.
Nun richtet sich all der Frust des Hundes gegen meinen Co-Trainer.
Aus Selbstschutzgründen ist Loslassen jetzt keine Option mehr. Mein Co-Trainer hält den wütenden Ridgi mit beiden Händen am Halsband so, dass seine Versuche meinen Co-Trainer zu beißen ins Leere gehen. Die gefletschten Zähne und das Knurren dürften auch dem Besitzer nicht entgangen sein.
Leider doch...
Er schreit meinen Co-Trainer an, er solle sofort seinen armen Hund loslassen. Ich appeliere an den gesunden Menschenverstand des Besitzers und versuche zu erklären, dass mein Co-Trainer momentan nicht loslassen kann, weil es sonst gefährlich für ihn wird und der Hund unverzüglich angreifen wird.
Keine Chance.... armes Hundebaby...
Wird aus Sicht des Besitzers schwer misshandelt... (mein Co-Trainer hatte lediglich beide Hände im Halsband)... und er kommt seinem, in blanker Aggression kämpfenden, Hund zu Hilfe und will meinen Co-Trainer angreifen.
Ich kann noch warnen bevor mein Co-Trainer vom Halter angegriffen wird. Er muss den Hund loslassen. Dieser nutzt sofort die Chance, um ihm Richtung Gesicht zu springen. Meinem Co-Trainer bleibt nun keine Wahl mehr. Er muss tun, was er eigentlich mit dem Griff ins Halsband vermeiden wollte... Er muss sich nun leider körperlich verteidigen und tritt dem, ihn entgegen springenden, Hund weg, um sich vor schweren Verletzungen im Hals-/Kopfbereich zu schützen. (Wieder Sorry, liebe Tiernaivlinge.)
Für den Hundehalter freue ich mich, dass er anstatt im Krankenhaus zu erwachen - dank schnellem Eingreifen meines Co-Trainers - die Möglichkeit nutzen konnte, uns umgehend negativ zu bewerten.
3. Bsp.
Die Dogge einer Kundin hatte eine Auseinandersetzung mit Todesfolge mit einem Jack Russell. Mit blankem Entsetzen musste ich ihre Einschätzung dieses Vorfalls zur Kenntnis nehmen. Sie sagte: "Mein Hugo (Name geändert), hat den kleinen Hund gar nicht getötet. Der ist ja erst in der Tierklinik verstorben."
Worauf ich hinaus will: Niemand kann Beißvorfälle verhindern oder Aggressionsprobleme lösen, wenn Menschen nicht bereit sind, das Tier im Hund zu akzeptieren. Die Rasse eines Hundes spielt hierbei eine völlig untergeordnete Rolle. Das Problem ist die zunehmende Verkennung und Romantisierung unserer Hunde.
Diese fängt bei der Unterstellung von Dankbarkeit (bei geretteten Hunden) und Reue (bei Beißvorfällen) an und gipfelt in der Annahme, dass ein klares Setzen von Grenzen, die für ein Zusammenleben von Mensch, Hund und Umwelt nunmal unabdingbar sind, unfair oder gar Tierquälerei seien.