15/02/2025
Warum ist mein Tierarzt nicht 24/7 erreichbar?
Hier mal die Erfahrung eines bekannten Praktikers...
Burnout: Ein Erfahrungsbericht
Von Ralph Rückert, Tierarzt
Man merkt an der langen Pause, die seit dem letzten Artikel entstanden ist, dass ich mit diesem Text hier ziemlich zu kämpfen hatte. Ich habe ja immer einen ehrlichen Blick hinter die Kulissen der Tiermedizin versprochen und dieses Versprechen meiner Meinung nach auch gehalten. Manche Themen habe ich aber bewusst vermieden, weil sie mir während meiner aktiven Zeit als Praxisinhaber einfach zu persönlich, zu intim waren.
Ich habe in den beiden letzten Artikeln eher so nebenbei erwähnt, dass die massive Selbstausbeutung der Babyboomer-Tierärzten so einigen von uns psychisch und physisch nicht gut bekommen ist. Der Trigger für diesen Artikel war dann – wie so oft – ein Kommentar auf Facebook:
„Wir (obwohl kleine Stadt und eher ländlich) hatten das Glück, dass hier zunächst unsere Praxis und ein Kollege tatsächlich jede Woche inkl. Wochenende Notdienst hatten. Jede Woche abwechselnd. Dann fiel die andere Praxis weg, (…). Unsere hat dann zumindest alle 2 Wochen weitergemacht, …“
Tja, genau so haben wir – ein befreundeter Praxisinhaber-Kollege und ich – das damals in den 90ern auch mal gemacht. Wir hatten beide einen hohen Anspruch, was die Versorgung unserer Patienten anging, und waren sehr unglücklich darüber, was da häufig im Notdienst gelaufen ist. Man muss wissen, dass es damals durchaus noch Kleintierpraxen gab, die nicht mal ein Röntgengerät hatten bzw. nicht im Traum dazu in der Lage waren, irgendwelche echten Notfälle, die über einen Brechdurchfall hinausgingen, erfolgreich zu handhaben. Damit wollten wir uns nicht abfinden und haben dann beschlossen, dass wir uns jedes Wochenende mit Notdienst exklusiv für die Patienten unserer beiden Praxen abwechseln würden.
Damit begann eine sehr, sehr arbeitsreiche, aber auch ausgesprochen erfolgreiche Zeit. Wir hatten an diesen Wochenenden immer richtig viel zu tun und lebten in dem Gefühl, unsere Patienten jederzeit gut versorgt zu wissen, mit dem zusätzlichen Bonus von neuen Rekordumsätzen. Alle konnten mit unserer Lösung höchst zufrieden sein, sowohl wir als auch unsere Kundinnen und Kunden. Die deutlich höhere Arbeitsbelastung hat uns – dachten wir – unter diesen Umständen nichts ausgemacht. Wir waren schließlich Boomer, resilient ohne Ende und außerdem echt verliebt in unseren Beruf, Vollblut-Tierärzte halt.
Aber dann ist was Komisches passiert, zwar nicht von heute auf morgen, aber schon ziemlich schnell: Irgendwie ging der gewohnte Spaß an der Arbeit mehr und mehr verloren. Ich war viel müde, bin morgens nicht in die Gänge gekommen, brauchte insgesamt viel Schlaf, habe aber nicht gut geschlafen. In der Praxis wurde das bisher als „Pulsschlag“ einer gut beschäftigten Praxis empfundene Klingeln der Telefone und der Eingangstür auf einmal ein Stressfaktor, so im Sinne von „was wollen die denn alle von mir?“. Die Empathie mit den Patienten ging den Bach runter. Diese Veränderungen haben sich durchaus auch auf den Privatbereich erstreckt, mit ständiger Niedergeschlagenheit und Gereiztheit. Als dann zu diesen Frühsymptomen auch noch eine zunehmende Depersonalisation kam, wurde meiner Frau und mir bewusst, dass sich da was Gefährliches abspielt. Depersonalisation (bitte auf Wikipedia nachschlagen, eine Erläuterung würde den Rahmen dieses Artikels sprengen) ist ein für die Betroffenen sehr beängstigender Vorgang.
Diese Entwicklungen fanden im Frühling und Frühsommer statt. Wir haben dann beschlossen, uns zum ersten Mal in unserem Berufsleben ganze drei Wochen Urlaub zu nehmen, in der Hoffnung, dass wir das Problem so in den Griff bekommen könnten. Diese Hoffnung hat sich aber nicht erfüllt, weil ich sogar den Urlaub als stressig und überlastend empfunden habe und auch dort völlig neben mir stand. Zum Beispiel habe ich es geschafft, mit den Fahrrädern auf dem Dachträger in einen dafür viel zu niedrigen Carport zu fahren, und bin dann (für mich schon sehr untypisch) darüber in Tränen ausgebrochen. Wie auch immer, nach diesen drei Wochen Urlaub hat es mir (zum ersten und einzigen Mal) nicht nur davor gegraut, wieder in den Praxisbetrieb einzusteigen, ich hatte richtig Angst davor, mit entsprechenden körperlichen Symptomen wie hoher Pulsfrequenz und erhöhtem Blutdruck. Kurz gesagt ging es mir hundeelend!
Zu diesem Zeitpunkt wurde mir bewusst, dass ich höchstwahrscheinlich externe und professionelle Hilfe benötigen würde, um da unbeschadet wieder rauszukommen. Andererseits hat das Leben als Selbständiger ja nicht nur Nachteile, weil man immerhin ein gerüttelt Maß Wirkungsmacht bezüglich der eigenen Umstände hat. Kaum aus dem Urlaub zurück habe ich mich sofort mit meinem Freund zusammengesetzt und ihm mitgeteilt, dass ich bei unserem wechselseitigen Notdienst alle 14 Tage einfach nicht mehr mitmachen könne. Zu meiner Überraschung reagierte er sehr erleichtert und sagte, dass er eigentlich vorhatte, mir mitzuteilen, dass er aussteigen müsse. Auch er hatte inzwischen bei sich selbst zunehmende Probleme wahrgenommen, in seinem Fall eher körperliche. So haben wir uns also darauf geeinigt, unser eigentlich so erfolgreiches Konzept mit sofortiger Wirkung in die Tonne zu treten.
In meinem Fall war diese Änderung dann tatsächlich erfolgreich, so dass sich all meine Symptome ohne externe Hilfe in den nächsten Wochen wieder in Luft aufgelöst haben. Bei meinem Freund war das nicht so eindeutig, weil er bald darauf an einer schweren Pneumonie (Lungenentzündung) erkrankte. Ohne es belegen zu können, würde ich da bis heute einen Zusammenhang mit der durch unsere Kooperation entstandenen Überlastung unterstellen wollen.
Warum habe ich das jetzt, knapp 30 Jahre später, aufgeschrieben? Nun, es gehört halt auch zu dem versprochenen offenen Blick hinter die Kulissen der Tiermedizin. Und es kann als Erklärung dienen, was hinter so einer Entwicklung, wie sie in dem Kommentar oben beschrieben wurde, stecken kann. Soll der Artikel als Warnung dienen für Kolleginnen und Kollegen? Kommt drauf an! Im Rückblick sehe ich es zwar so, dass wir uns damals durch Überschätzung unserer Resilienz selbst ins Knie geschossen haben. Andererseits habe ich es offenbar noch rechtzeitig gemerkt und dann durch eine drastische Änderung der Rahmenbedingungen wieder korrigiert, mit einem positiven Outcome, auch in dem Sinne, dass mir das nie wieder passiert ist.
Ich sehe da eine Parallele zum Hochleistungssport. Jede Athletin, jeder Athlet muss damit rechnen, dass das für hervorragende Leistungen notwendige Training zu Überlastungserscheinungen und Verletzungen führen kann. Dementsprechend ist es notwendig, seine eigenen Grenzen zu erkennen. Um Grenzen auszuloten, muss man sich aber letztendlich erst mal in den Grenzbereich vorwagen. Mein Freund und ich hatten bezüglich unseres Berufes nun mal auch den Anspruch auf Exzellenz, wollten also unseren Kundinnen und Kunden hervorragende Tierärzte sein, auch und gerade, was die Versorgung von Notfällen anging. Also sind wir damals eben in unseren Grenzbereich vorgestoßen und haben dann unsere individuellen Grenzen erkennen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen müssen. Es liegt mir fern, bei jüngeren Kolleginnen und Kollegen eine Art Schreckstarre auslösen zu wollen, die dann verhindern würde, dass sie je ihr individuelles Potential ausschöpfen können. Wer für etwas brennt, kann natürlich auch ausbrennen, wenn er es überzieht. Deshalb aber das Brennen für ein Ziel, für einen Beruf von vornherein zu vermeiden, ist in meinen Augen der falsche Weg. Oder, wie ein österreichischer Kollege es mal ausgedrückt hat: Wenn man sich schon während des Studiums Sorgen über einen späteren Burn-Out macht, ist das schon ein bisschen übertrieben, denn vor dem Burn-Out muss ja allemal erst ein Burn-In kommen.
Als sehr problematisch empfinde ich es, wenn man in so eine ungute Situation kommt, während man in einem Angestelltenverhältnis arbeitet. Als Selbständiger hat man die Möglichkeit, die Rahmenbedingungen den eigenen Grenzen anzupassen. Als Angestellte(r) ist das nicht so einfach. Da wird man in vielen Fällen um Krankschreibung und die Inanspruchnahme externer Hilfe nicht herumkommen, weil das andernfalls sicher einen ungünstigen Verlauf nehmen könnte.
Wovor ich allerdings auf jeden Fall warnen möchte, wäre der Versuch, sowas so lange wie möglich zu ignorieren. Ich will damit nicht einer ängstlichen 24/7-Nabelbeschau das Wort reden, aber die von mir erlebten Symptome und die damit einhergehende Einschränkung des Wohlbefindens waren schließlich mehr als deutlich. Sobald man sicher erkannt hat, dass da was faul ist, muss man eben schnelle Konsequenzen ziehen und die das Problem auslösende Belastung sofort reduzieren. Treibt man es zu weit, kann das wahrscheinlich auch schnell zur Notwendigkeit einer längerfristigen und vielleicht gar stationären Behandlung führen, was nicht nur, aber speziell für Selbständige natürlich eine ganz schlimme Sache wäre.
Bleiben Sie mir gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Ralph Rückert
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